Der Weihnachtsblues
Ein Blick auf den Kalender lässt es zur bitteren Wahrheit werden. Weihnachten steht vor der Tür. Schon wieder. Habe ich dieses – nennen wir es „Projekt“ – nicht vor Kurzem erst abgeschlossen? Ach nein, ich erinnere mich, ich habe dieses Projekt vor Kurzem erst vollends verarbeitet. Sowohl finanziell als auch mental. Und jetzt beginnt das Ganze schon wieder von Vorne??? Die ersten Anzeichen für den nächsten Weihnachtsblues machen sich bemerkbar. Erhöhter Pulsschlag, Schweiß auf der Stirn, Angst im Blick.
Dabei sind mir die einzelnen Prozesse beim Projektmanagement bestens bekannt. Initiierung, Planung, Steuerung, Abschluss, Punkt. Und auch der damit oftmals einhergehende Zeitdruck, fehlende Ressourcen, kritische Auftraggeber oder kurzfristig wechselnde Vorgaben gehören zum Berufsalltag. Auch nach Feierabend sind ein ausgefeiltes Zeitmanagement und eine gewisse Stressresistenz unabdingbar. Wenn der Kühlschrank aufgefüllt, der Hund Gassi geführt, die tägliche Sporteinheit absolviert und die Bluse gebügelt werden muss. Und zwar alles innerhalb von eineinhalb Stunden, denn dann beginnt die Serie, auf die man sich schon den ganzen Tag gefreut hat. So what? Ist doch eigentlich alles wie immer? Nein, ganz und gar nicht. Denn Weihnachten bedeutet nicht nur den ganz normalen Alltagswahnsinn zu bewältigen. Weihnachten setzt all dem noch die Krone auf.
Zum Einen sind da die Erwartungen, nennen wir sie Anforderungen, die an dieses Fest gestellt werden. Von einem selbst und vom Rest der Familie, im Folgenden Stakeholder genannt. Dank zahlreicher Werbespots und Hollywoodfilme ist Weihnachten inzwischen ein Synonym für eine tiefenentspannte und glückliche Familie, perfekte Geschenke, eine reich gedeckte und geschmackvoll dekorierte Festtafel, viel Schnee und den Coca-Cola Weihnachtstruck geworden. Womit das Ziel meines Projektes dann auch gleich eindeutig definiert ist. Ein perfektes Weihnachtsfest. Hallelujah. Natürlich möchte man jeden einzelnen Stakeholder zufrieden stellen. Es gibt mitunter sehr sensible Exemplare. Jeder möchte persönlich besucht oder eingeladen, passend beschenkt (auch wenn es vorher nicht geäußert wurde) und umfangreich über das eigene Privatleben informiert werden. Und man selbst will mit einem Baum und viel Deko, der passenden Musik, delikatem Essen und blendender Laune den Geist der Weihnacht heraufbeschwören und das Projektziel zu 100 Prozent erreichen.
Perfekte Weihnachten oder Weihnachtsblues?
Die Realität sieht dann allerdings in der Regel etwas anders aus. Schauen wir uns zunächst einige der Anforderungen an. Ein paar davon können direkt als „nicht realisierbar“ eingestuft werden. Auch wenn ich es mir noch so sehr wünsche, auf die meteorologischen Gegebenheiten an Weihnachten werde ich keinen Einfluss nehmen können. Weiße Weihnacht ist ein Glückspiel, dass ich zumindest in meiner Heimatstadt nur alle paar Jahre mal gewinne. Dann haben wir da die rundum glückliche Familie. Einfach nicht realisierbar. Zufrieden? Möglich. Gut gelaunt? Könnte klappen. Positiv überrascht? Machbar. Aber glücklich? Das sollte dann doch jeder als sein eigenes Projekt betrachten. Diesen Schuh kann ich mir unmöglich anziehen. Er drückt überall und hinterlässt schmerzhafte Blasen. Was bleibt, sind die perfekten Geschenke. Trotz rechtzeitig aufgestelltem Zeitplan, sich jährlich wiederholenden Workflows und empirisch erstellten Use Cases hetze ich immer wieder erst unmittelbar vor dem 24. Dezember durch die völlig überfüllten Einkaufszentren, da es fürs Onlineshopping zu spät ist und ich auch eigentlich gar nicht weiß, was ich kaufen soll. Woher auch, wenn es wie jedes Jahr immer wieder heißt „ Du brauchst mir nichts zu schenken!“ oder „Nein, ich habe keine Wünsche!“. Keine Wünsche? Welcher Mensch hat denn bitte keine Wünsche? Ich selbst habe jede Menge Wünsche. Der Weihnachtsmann wäre ganzjährig beschäftigt, um diese alle zu erfüllen. Aber gut. Offensichtlich gibt es sie, die wunschlos glücklichen Menschen. So irre ich dann also mit diesen doch etwas schwammig geratenen Spezifikationen durch die Geschäfte und mutiere mit jedem weiteren Ellenbogen, der mich in die Rippen trifft und jedem weiteren Geschäft, dass ich ohne den Ansatz eines Weihnachtsgeschenkes verlasse, immer mehr zum Grinch. Innerlich und äußerlich. Mein Gesicht nimmt einen äußerst bizarren Ausdruck an und verfärbt sich zusehends und meine Meinung zu Weihnachten entspricht der zu Cocktailschirmchen. ALLES HUMBUG! Immer mehr komme ich zu der eigentlich wenig überraschenden Erkenntnis, dass mein Projekt „Perfekte Weihnachten“ mal wieder zu scheitern droht.
Aber dieses Jahr soll alles anders werden. Kein Stress, keine Schweißausbrüche in überfüllten Geschäften, keine Albträume über vergessene Geschenke und keine unrealistischen Anforderungen an ein Fest, dass doch eigentlich seinen Ursprung in einem kleinen Stall voll Stroh und ein paar Tieren hatte und anlässlich der Geburt eines Kindes begangen wurde. Dort gab es keine maßlos überfüllte Festtafel, keine wild blinkende Lichterinstallation oder einen riesigen Berg Geschenke. Die drei heiligen Könige brachten Weihrauch, Myrrhe und, na gut, ein bisschen Gold. Was es an diesem Abend zu essen gab, ist nicht überliefert, und ein Stall ist sicherlich nicht der komfortabelste Ort zum Übernachten.
Vielleicht können wir in Erinnerung an diese Heilige Nacht uns auf das friedliche Beisammensein von Menschen (und/oder Tieren) konzentrieren und für die schönen Dinge dankbar sein, die im vergangenen Jahr passiert sind. Ob ich selbst diesem Ansatz jemals gerecht werden kann, steht in den Sternen. Den Abendsternen. Aber wenn das meine neuen Anforderungen an die Feiertage werden, stehen die Chancen wesentlich besser dem Projektziel nahe zu kommen. Nun muss ich diese frohe Botschaft nur noch unter die Leute bringen, damit auch alle beteiligten Stakeholder über die Änderung der Weihnachtsanforderungen im Bilde sind. Ich hoffe, dass meine wenig agile Familie sich damit anfreunden kann, dass es in diesem Jahr keinen Weihnachtsbaum, sondern nur einen Weihnachtsstrauß, keine Wagenladung Geschenke, sondern nur etwas Selbstgebackenes und kein abendfüllendes Entertainment, sondern nur unaufgeregtes Beisammensitzen gibt. Allein der Gedanke an diese neue Einstellung zum Weihnachtswahnsinn lässt meine Nackenmuskulatur deutlich lockerer werden und so etwas wie Vorfreude entstehen. Es ist ja schließlich auch mein Weihnachten; also müssen doch meine Anforderungen mindestens in gleichem Maße gewichtet werden, wenn nicht sogar darüber hinaus. Sollte es noch andere geben, die wie ich bisher im Dezember in den Weihnachtsblues verfallen sind, kann ich ihnen nur empfehlen, ihre Projektziele einmal genau zu überprüfen und insbesondere die entsprechend vorhandenen Ressourcen. Man muss kein Scrum Master sein, um kurzfristig Änderungen festzulegen und zu kommunizieren. Mit den richtigen Argumenten kann man die Stimmung im Team bestimmt im positiven Bereich halten. Allein das Herunterbrechen auf kleine, einfache aber wichtige Anforderungen macht das ganze Projekt überschaubarer und entspannter. Und wer ist nicht ein glücklicher Projektleiter, wenn es am Ende heißt: „Frohe Weihnachten“.
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