Agiles Qualitätsmanagement – gibt es so etwas?

by | 25.07.2022 | objectiF RPM anwenden

Heute ist viel die Rede davon, dass Unternehmen Business Agilität entwickeln müssen. Gemeint ist die Fähigkeit, sich dynamisch zu verändern, mit dem Ziel, in einem volatilen, unsicheren, komplexen und ambivalenten Geschäftsumfeld (Stichwort VUKA) relevant zu bleiben.

Business Agilität hat drei Dimensionen: das Wertangebot, das ein Unternehmen machen kann, sowie Geschwindigkeit und Qualität, mit denen die Werte bereitgestellt werden können. Alle drei müssen optimiert werden. Denn ist auch nur eine Dimension nicht ausgeprägt, wird es für das Unternehmen problematisch:

  • Die innovativsten Produkte & Services nützen wenig, wenn Kunden darin keinen echten Wert für sich erkennen.
  • Ist ein Unternehmen bei Entwicklung und Vermarktung seiner Produkte & Services zu langsam, wird es vom Wettbewerb abgehängt und verliert Marktchancen.
  • Stimmen zwar Wertangebot und Geschwindigkeit, nicht aber die Qualität, wenden sich die Kunden ab.

 

Die drei Dimensionen der Business Agilität: Werte, Qualität, Geschwindigkeit

Abb. 1: Die drei Dimensionen der Business Agilität

Das klingt plausibel. Aber innovative Wertangebote mit hoher Geschwindigkeit produzieren und dabei auch noch Qualität liefern – funktioniert das wirklich? Was bedeutet das für das Qualitätsmanagement? Hat Qualitätsmanagement in einer VUKA-Welt überhaupt einen Platz und wenn ja, muss es sich verändern? Um diese Fragen soll es hier gehen.

Konflikte vorprogrammiert?

Qualitätsmanagement und Agilität– auf den ersten Blick prallen hier zwei Welten aufeinander:

Da sind auf der einen Seite die Qualitätsmanager. Sie sind dafür verantwortlich, einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP) in einer Organisation zu etablieren. Dazu müssen sie die vorhandenen Abläufe bewerten und verbindliche Vorgaben für Prozessänderungen sowie für den Einsatz von Methoden und Werkzeugen machen. Was muss in welchem Umfang dokumentiert werden? Wie sollen vertragliche Vereinbarungen zwischen der Organisation und ihren Auftraggebern bzw. Auftragnehmern grundsätzlich aussehen? Hierzu sind Regelungen zu treffen, festzuschreiben und in der Organisation durchzusetzen. Auch das gehört zu den Aufgaben von Qualitätsmanagern.

Auf der anderen Seite finden wir die „Agilen“. Ihre Denkweise ist geprägt vom – inzwischen mehr als 20 Jahre alten – agilen Manifest aus der Softwareentwicklung (vgl. [1]):

Wir schätzen

Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge

Funktionierende Produkte (ursprünglich: Software) mehr als umfassende Dokumentation

Zusammenarbeit mit dem Kunden mehr als Vertragsverhandlung

Reagieren auf Veränderung mehr als das Befolgen eines Plans.

Diese vier Aussagen scheinen nicht mit einem Qualitätsmanagement verträglich zu sein, das nach verbindlichen Regelungen strebt. (Daran ändert auch der Hinweis im agilen Manifest nichts, dass die Werte auf der rechten Seite nicht wegfallen, aber die auf der linken Seite höher eingeschätzt werden.) Denn ist es nicht gerade der Mangel an verbindlichen Prozessen und Werkzeugen, an vollständiger Dokumentation, ausverhandelten Qualitätsmerkmalen und guter Planung, der immer wieder zu Problemen, ja sogar zu Schäden führt?

Sind Qualitätsmanagement und Agilität also tatsächlich unvereinbar?

Das klassische Qualitätsmanagement ist mit seinen Regelungen, Prozessen und Entscheidungswegen auf langfristig stabile Gegebenheiten ausgelegt und fest in den hierarchischen Strukturen eines Unternehmens verankert. Damit ist es der Geschwindigkeit, mit der sich heute Veränderungen vollziehen, kaum noch gewachsen. In Unternehmen, die auf hohe Business Agilität angewiesen sind, muss auch das Qualitätsmanagement agil werden. Dabei sind Hürden zu nehmen. Sie sind aber nicht unüberwindlich, denn Agilität bedeutet nicht den Verzicht auf klare Regeln und strukturiertes Vorgehen.

Der Weg zu agilem Qualitätsmanagement

Ein einheitliches Qualitätsverständnis und die gemeinsame Verantwortung für Qualität können den Weg zu einem neuen Qualitätsmanagement in agilen Organisationen ebnen.

Im agilen Kontext werden Kunden eng in die Entwicklung einbezogen. Das beginnt beim Erheben der Anforderungen und reicht bis zum schnellen Liefern mit kurzen Feedback-Schleifen. Damit wird nicht nur die Gefahr verringert, dass die Entwicklung von Produkten & Services am Kundenbedarf vorbeigeht. Dieses Vorgehen hilft auch dabei, Wünsche, funktionale Anforderungen, unausgesprochene Erwartungen und emotionale Bedürfnisse der Kunden besser zu verstehen, zu erfüllen und – mehr noch – auch innovative, unerwartete und begeisternde Eigenschaften eines Produkts oder Services zu entwickeln. Qualität bedeutet also aus Sicht einer agilen Organisation nicht nur das einwandfreie Funktionieren von Produkten & Services und das Erreichen von messbaren technischen Eigenschaften. Auch die Kundenzufriedenheit wird zu einem Maßstab für Qualität.

In agilen Organisationen mit ihren flachen Hierarchien und ihrem hohen Grad an Selbstorganisation der Teams ist ein weitreichendes Umdenken im Qualitätsmanagement notwendig. In [2] wird – analog zum agilen Manifest für die Softwareentwicklung – ein Vorschlag für ein Manifest zum agilen Qualitätsmanagement gemacht. Die dort formulierten Grundsätze lauten:

Kunden- und Geschäftsfokus sind wichtiger als interne Richtlinien.

Verantwortung und Engagement für Qualität sind wichtiger als das Abarbeiten von Checklisten.

Vernetzt arbeiten ist wichtiger als ständige Feuerlöschaktionen.

Frühes Testen und schnelles Lernen sind wichtiger als lange Produkteinführungen.

Transparenz mit Echtzeitdaten ist wichtiger als detaillierte Qualitätsberichte.

Qualitätskompetenz bei allen aufbauen ist wichtiger als das Trainieren von Qualitätsexperten.

Schlanke Managementsysteme sind wichtiger als umfangreiche Handbücher.

(Siehe auch einen Vergleich mit den Grundsätzen der ISO 9001 in [3].)

Was bedeutet das konkret für den Weg zum agilen Qualitätsmanagement?

  • Es muss für eine fortlaufende Interaktion mit externen und internen Kunden gesorgt werden. Dann kann jederzeit auf direktem Wege ein Feedback zu Anforderungen, Lösungskonzepten, geplanter Nutzung, Prototypen etc. eingeholt werden.
  • Es muss das Bewusstsein geschaffen werden, dass jedes Mitglied eines selbstorganisierten Teams eine hohe Verantwortung für die Qualität des Vorgehens und der gemeinsamen Ergebnisse trägt.
  • Mit zunehmender Selbstorganisation der Teams muss der Aufbau von vernetzen Strukturen einhergehen, u.a. um die Beschaffung des nötigen Expertenwissens – auch in Hinsicht auf Produkt- und Prozessqualität – zu sichern.
  • Ein zentrales Element agiler Arbeit ist das frühe Testen möglichst unter Beteiligung potenzieller Anwender. Testen muss bereits bei Produkt- und Problemlösungsansätzen beginnen.
  • Zur Agilität gehört das schnelle Reagieren auf Veränderungen. Voraussetzung dafür sind aktuelle Informationen. Sie sollten in Echtzeit zur Verfügung stehen und analysiert werden.
  • Die Verlagerung der Verantwortung für Qualität in die Teams erfordert gleichzeitig, dass bei allen Beteiligten entsprechendes Know-how aufgebaut wird.
  • Um Überformalisierung und Bürokratisierung zurückzufahren, müssen Strukturen, Prozesse und Regelungen vereinfacht und die Dokumentation auf das Notwendige begrenzt werden. Es sollte möglich sein, Dokumente zu generieren und in Echtzeit maschinell zu aktualisieren.

Instrumente für agiles Qualitätsmanagement

Will man diesen Weg im Qualitätsmanagement erfolgreich gehen, so müssen Prozesse und Regelungen verschlankt, vereinfacht und – wo immer es möglich ist – inkrementell-iterativ ausgeprägt werden. Es müssen Instrumente für eine neue interaktive Form der Zusammenarbeit eingeführt werden. Aus der agilen Produktentwicklung stehen heute zahlreiche erprobte Methoden und Techniken zur Verfügung, die im Qualitätsmanagement genutzt werden können. Da sind: das Design Thinking im Großen oder im Kleinen, das Arbeiten mit Personas, das Verfeinern von Anforderungen mit User Story Boards, das frühe Testen von Prozessen auf Papier mit Storyboards und Lo-Fi-Prototyen, um nur einige zu nennen.

Auch Tools wie die Unternehmenssoftware objectiF RPM können helfen, den Weg zum agilen Qualitätsmanagement zu ebnen. objectiF RPM bietet u.a. Funktionen für

  • das Verfeinern von Anforderungen und Visualisieren ihrer Zusammenhänge,
  • den Einsatz von User Story und Kanban Boards,
  • das Definieren von Personas,
  • kollaboratives Arbeiten und Einbinden von Experten,
  • das Beschaffen von Daten in Echtzeit,
  • das Generieren und Aktualisieren der Dokumentation,
  • das Führen einer Historie für alle Ergebnisse,
  • das Gewährleisten von Revisionssicherheit.

Wie sieht der Einsatz dieser Instrumente im Qualitätsmanagement konkret aus? Aus den vielfältigen Möglichkeiten ist hier …

Ein Beispiel für agile Techniken im Qualitätsmanagement:
FMEA mit Kanban und Echtzeitdaten

Eine Methode des präventiven Qualitätsmanagements ist die Fehler-Möglichkeits- und -Einfluss-Analyse (FMEA) aus dem Automotive Sektor. Hinter diesem etwas schwerfälligen Namen verbirgt sich ein systematisches Vorgehen, das helfen soll, technische Risiken zu erkennen, sich auf die Vermeidung von Problemen mit Produkten und Fertigungsprozessen zu fokussieren und – in der Konsequenz – Fehlerkosten zu senken. Eine FMEA wird mit einem interdisziplinär besetzten Team durchgeführt, das durch einen Moderator bzw. eine Moderatorin mit methodischem Know-how, sozialer Kompetenz und der Fähigkeit zur Konfliktlösung unterstützt wird. Beste Voraussetzungen also für einen agilen Ansatz. Um die FMEA schneller, interaktiver und iterativer zu gestalten, bietet sich u.a. der Einsatz von Kanban an. Das kann dann z.B. so aussehen:

Kanban-Board für Fehleranalyse

Abb. 2: Hier ein Kanban-Board zur Unterstützung der Fehleranalyse im Rahmen der FMEA mit objectiF RPM

Kanban-Board für FMEA Maßnahmen

Abb. 3: Wo stehen wir bei der Planung und Umsetzung von Maßnahmen zum Erkennen und Vermeiden von Fehlern? Dieses Kanban-Board macht den Stand der Arbeit für alle Mitglieder eines FMEA-Teams sichtbar

Zur Beschleunigung des Vorgehens kann darüber hinaus die Beschaffung von Daten in Echtzeit beitragen. Auch dafür ein Beispiel:

Zustandsanalyse FMEA in objectiF RPM

Abb. 4: Wie ist der momentane Stand der FMEA in Hinsicht auf die bisher identifizierten potenziellen Fehler und die geplanten Maßnahmen? objectiF RPM liefert die Antwort mit aktuellen Zuständen in Echtzeit.

Wie führt man agile Techniken beispielsweise für die FMEA oder ganz allgemein im Qualitätsmanagement einer Organisation ein? Eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Einführung ist eine hohe Lernfähigkeit und Lernbereitschaft der Organisation.

Der Weg der kleinen Schritte – Stolpern erlaubt

Keine Organisation wird mit einem Big Bang agil. Das gilt auch in Hinsicht auf das Qualitätsmanagement. Agilität umzusetzen bedeutet, Organisationsentwicklung zu betreiben. Und warum dabei nicht selbst agile Techniken anwenden? Hier ist eine ganz spezielle Option: Probieren Sie doch einmal die Technik der Safe-to-Fail Experimente (siehe [4]).

Das funktioniert für das Qualitätsmanagement so: Sehen Sie den Einsatz jeder neuen agilen Technik und jedes neuen agilen Prozesses als ein Experiment an, das auch scheitern darf! Jedes Experiment sollte klein und überschaubar sein. Außerdem sollte es nur in einem begrenzten Kontext durchgeführt werden, damit das mögliche Scheitern nicht zu sehr schmerzt. Machen Sie nicht zu viele Experimente gleichzeitig. Planen Sie die Experimente am besten mit einem Kanban Board.

Safe-to-fail Board für FMEA

Abb. 5: So könnte ein Board für Safe-to-Fail Experimente aussehen

Die Mitglieder des Qualitätsmanagement-Teams sollten sich regelmäßig für Stand-up Meetings vor dem Board treffen, um sich über den Fortschritt der Experimente auszutauschen. Am Ende jedes Experiments steht die Bewertung in Form einer kurzen Retrospektive:

  • Was hat funktioniert und was nicht?
  • Haben die Betroffenen gemacht, was vorgesehen war? Wenn nicht, warum?
  • Kann die Technik bzw. der Prozess in der Organisation eingeführt werden? Oder müssen Sie etwas ändern und ein neues Experiment starten? Oder sollte man dieses Experiment besser vergessen?

Fällt ein Experiment positiv aus, können Sie die erprobte Technik in einem größeren Kontext ausrollen. So bewegen Sie sich Schritt für Schritt in die Richtung einer agileren und lernenden Organisation.

Fazit

Business Agilität ist kein Selbstläufer. Sie erfordert ein neues Mindset und damit auch die Veränderung von Kultur und Rollen innerhalb einer Organisation. Neben Wertangebot und Geschwindigkeit bestimmt nach wie vor die Qualität die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens. Das heißt, auch das Qualitätsmanagement muss seinen Beitrag zu mehr Agilität leisten und eingefahrene Wege verlassen. Ein Wandel der Qualitätskultur vollzieht sich nicht von heute auf morgen. Aber die umfangreichen Erfahrungen mit Agilität, ihren Methoden, Techniken und Tools aus anderen Unternehmensbereichen kann den einzuschlagenden Weg ebnen.

Übrigens: Im Whitepaper Fehler-Möglichkeits- und Einfluss-Analyse mit objectiF RPM finden Sie mehr Informationen zur tool-unterstützten Arbeit von FMEA-Teams.

Lernen Sie objectiF RPM kostenfrei kennen: Einfach hier herunterladen:

 

Quellen

[1] Manifest für Agile Softwareentwicklung: https://agilemanifesto.org/iso/de/manifesto.html
[2] Sommerhoff, Benedikt; Wolter, Olaf: Agiles Qualitätsmanagement (Pocket Power), Carl Hanser Verlag München 2019
[3] Manifest für agiles Qualitätsmanagement: http://blog.dgq.de/manifest-fuer-agiles-qualitaetsmanagement/, eingestellt im Oktober 2016, abgerufen am 11.07.2022
[4] Dave Snowden: Safe-fail probes, https://thecynefin.co/safe-fail-probes/, eingestellt im November 2007, abgerufen am 11.07.2022