200 Gramm Disruptiv, bitte!
„Bill, ich habe eine großartige Idee! Wir sind zwar der größte Softwarehersteller auf diesem Planeten, aber wir sollten zukünftig auch Handys produzieren. Handys, auf denen kleine Programme laufen, die wir über einen Shop weltweit vermarkten können. So generieren wir Umsätze mit den Handys und den Programmen.“ Es ist nicht überliefert, ob Microsoft-Mitbegründer Bill Gates jemals eine solche Idee präsentiert bekam, es ist aber sicher, dass die Firma Apple mit dieser Idee in den letzten 10 Jahren mehr als 1 Milliarde iPhones verkauft und damit 655 Milliarden Dollar Umsatz erzielt hat. Beeindruckende Zahlen und eine beeindruckende, disruptive Innovation, oder?
Was ist eigentlich disruptiv?
Der Begriff „disruptive“ bzw. „disruptive technologies“ wurde von Clayton Magleby Christensen in seinem Buch „The Innovator’s Dilemma“¹ eingeführt. Eine disruptive Technologie (englisch: to disrupt „unterbrechen“) ist eine Innovation, die eine bestehende Technologie, ein bestehendes Produkt oder eine bestehende Dienstleistung möglicherweise vollständig verdrängt.² Christensen stellte die Begriffe „disruptive“ und „sustaining“ gegenüber und beschrieb die Geisteshaltung von Unternehmen in Bezug auf vorhandene Technologien und Produkte. Während etablierte Unternehmen tendenziell versuchen, mit ihren Produkten und Dienstleistungen dauerhaft am Markt zu existieren, denken disruptive Unternehmen eher in Mehrwerten. Sie hinterfragen die Bedürfnisse und Wünsche von Kunden, erkennen neue Wege, sehen Chancen und gehen gegebenenfalls Risiken ein.
Natürlich können auch etablierte Unternehmen in Mehrwerten denken. Und viele Unternehmen tun dies auch (hier finden Sie ein Beispiel, kürzlich beschrieben von Conny Dethloff im microTOOL Blog). Die meisten dieser Unternehmen werden nicht mit dem Begriff „disruptiv“ in Verbindung gebracht, obwohl auch sie bestehende Technologien, Produkte und Dienstleistungen hinterfragen. Müssen Unternehmen funktionierende Geschäftsmodelle verändern, nur um sie zu verändern? Natürlich nicht. Ein totes Pferd zu reiten ist sicherlich keine gute Idee, auf einem gesunden Pferd lässt sich aber gut reiten. Sollten Unternehmen bestehende Geschäftsmodelle auf ihre Zukunftsfähigkeit überprüfen? Natürlich. Was ist ein Reiter ohne Pferd? Ein Sattelschlepper.
Auf der Suche nach der disruptiven Innovation
Der disruptive Blickwinkel
„Was ist das nächste große Ding?“ Diese Frage darf sich Apple immer wieder anhören. Die Erfindung von iPhone, iPad & Co. führt zu einer sehr großen Erwartungshaltung von – ja, von wem eigentlich? Fragen Sie sich, was Apple als nächstes entwickeln wird? Vielleicht ein wirklich smartes TV-Gerät? Oder eine super coole Datenbrille? Vermutlich ist die Frage nach dem nächsten großen Ding eine Frage von Analysten und gegebenenfalls auch von Journalisten, aber Kunden und Nutzer können sich entspannt zurücklehnen, abwarten und auf die Uhr gucken. Ach, auf der Uhr erscheinen inzwischen auch SMS, E-Mails und Fitnessdaten? Nein, dass ist kein großes Ding, keine Disruption! Es ist lediglich eine Uhr, die Menschen tragen, obwohl sie sich Jahre zuvor bewusst entschieden haben, fortan keine Uhr tragen zu wollen.
Wenn das iPhone als Disruption gilt, die Smartwatch aber nicht, dann ist Disruption nicht gleich Disruption! Die Beurteilung hängt vom Blickwinkel des Betrachters ab. Sie ist subjektiv. Und das führt zur Frage: Wer ist der Betrachter? Muss es immer der Endkunde sein oder kann es beispielsweise auch eine Fachabteilung eines Unternehmens sein? Fortan möchte das Marketing im Unternehmen eine E-Mail-Automatisierung nutzen. Die Logistik will neue Softwareversionen nicht mehr per CD sondern als Download und damit 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr zur Verfügung stellen. Und die Kommunikation mit Kunden und Interessenten soll per Chat über die Webseite des Unternehmens ermöglicht werden. Natürlich können Sie jetzt einwenden, dass E-Mail-Automatisierung, Softwaredownloads und Chatfunktionen nichts Disruptives haben. Und damit könnten Sie Recht haben, nämlich dann, wenn a) Sie bewerten, ob es für solche Themen schon funktionierende Lösungen am Markt gibt oder b) Sie diese Themen in Ihrem Unternehmen bereits erfolgreich in Angriff genommen haben oder c) Sie diese Themen nicht berühren. In anderen Worten: eine disruptive Innovation kann eine Marktrelevanz, eine Unternehmensrelevanz und auch eine persönliche Relevanz haben.
Disruption oder Evolution?
Wenn Sie über disruptive Erfindungen nachdenken, fallen Ihnen bestimmt einige Beispiele ein: Musik müssen Sie heutzutage nicht mehr kaufen, Sie können sie im monatlichen Abonnement in Ihr Wohnzimmer streamen. Bücher kaufen Sie vielleicht nicht mehr gedruckt, sondern per Download als eBook. Und gesunde Lebensmittel müssen Sie nicht mehr am Wochenende vom Bauernhof Ihrer Wahl abholen, denn die werden Ihnen jeden Freitagmorgen einfach in Ihr Büro geliefert. Eine schöne, neue Welt. Aber: sind diese neuen Möglichkeiten wirklich disruptiv? Sie verändern – hoffentlich vereinfachen – auch Ihr Leben. Sie verändern definitiv den Markt für alle Verkäufer von Musik, Büchern und gesunden Lebensmitteln und bieten – je nach Geschäftsmodell – Chancen und Risiken. Somit sind sie disruptiv.
Die Erfindung des Rads war sicherlich eine disruptive Innovation. Die Erfindungen des Buchdrucks, der Dampfmaschine, der Glühlampe, des Telefons und Konrad Zuses mechanischer Rechenmaschine Z1 auch. Sie haben nicht nur subjektiv zu Veränderungen geführt. Sie haben das Leben weltweit beeinflusst, also Individuen, Unternehmen und Märkte. Sind damit viele disruptive Innovationen der heutigen Zeit an sich lediglich Evolutionen? Apple hat nicht den Tablet-PC erfunden, eines der ersten Geräte dieser Art war 1989 das GRiDPad von GRiD Systems, das allerdings keine große Marktbedeutung erringen konnte³. Und die Idee zum iPhone als Gerät mit einem Touchdisplay soll Steve Jobs im Jahr 2000 gekommen sein, zu einem Zeitpunkt, zu dem der Personal Digital Assistant (PDA) der Firma Palm schon lange sehr erfolgreich auf dem Markt war.
Das „Disruptive Model“
Wenn Sie die Relevanz einer Innovation – sprich die Marktrelevanz und die Unternehmensrelevanz – mit den Gedanken von Evolution und Disruption verbinden, erhalten Sie ein „Disruptive Model“:
Das Disruptive Model mit Beispiel
Der Vorteil des Models liegt in den Überlegungen, welche Veränderungen sich Unternehmen von einer Innovation erhoffen und in welche Richtung eine Innovation hauptsächlich wirkt:
- Evolutionäre Innovation, hohe Unternehmensrelevanz, keine oder geringe Marktrelevanz
Der Fokus solcher Innovationen liegt auf dem Unternehmen selbst, das beispielsweise versucht, interne Abläufe zu vereinfachen, Produktionsverfahren zu beschleunigen oder Partnerschaften mit zusätzlichen Lieferanten zu etablieren. Dabei ist es unwichtig, ob andere Unternehmen bereits ähnliche Innovationen früher verwirklicht haben. - Disruptive Innovation, hohe Unternehmensrelevanz, keine oder geringe Marktrelevanz
In den 1990er und frühen 2000er Jahren versuchten Unternehmen Monostrukturen abzubauen und gleichzeitig neue Umsatzchancen in anderen Märkten zu generieren (auch bekannt als laterale Diversifikation). So engagierten sich Automobilhersteller in der Luft- und Raumfahrt und internationale Hotelkonzerne beteiligten sich an Reisebüros und Autovermietungen. Diese disruptiven Veränderungen stellten die Unternehmen vor große Herausforderungen, hatten aber für die betroffenen Märkte keine oder nur geringe Relevanz. Viele dieser Beteiligungen wurden später wieder eingestellt. - Disruptive Innovation, hohe Marktrelevanz und damit auch Unternehmensrelevanz
Eine disruptive Innovation besitzt eine hohe Marktrelevanz, wenn bestehende Märkte damit angegriffen oder gar beseitigt werden. Auch gänzlich neue Unternehmungen entstehen durch disruptive Innovationen, Beispiele hierfür sind u.a. Busfernreisen, Car-to-go und Rent-a-Bike Modelle, private Wohnraumvermietungen oder Online-Apotheken. - Evolutionäre Innovation, unterschiedlich ausgeprägte Marktrelevanz und Unternehmensrelevanz
Diese Form von Innovation ist am häufigsten anzutreffen. Beispiele hierfür sind sämtliche neue Generationen von Handys, Autos, Softwareprodukten, Computern, Maschinen, Robotern etc. Die Marktrelevanz ist je Markt und Technologie, Produkt oder Dienstleistung unterschiedlich. Und die Unternehmensrelevanz hängt von der jeweiligen strategischen Ausrichtung ab.
Natürlich hat jede Innovation, die eine Marktrelevanz besitzt, auch eine Unternehmensrelevanz. Nicht jede disruptive Innovation trifft auf einen Markt (das ist ein Grund, warum Produkteinführungen scheitern). Und die Marktrelevanz kann im Laufe der Zeit für eine Innovation zurückgehen, der Umsatz in dem Markt aber dennoch steigen (die 1. Generation des iPhones generierte im Jahr 2008 bei praktisch absoluter Marktrelevanz ca. 1,88 Milliarden Dollar Umsatz, 2016 betrug der Umsatz der 6. und 7. Generation bei geringerer Marktrelevanz ca. 137 Milliarden Dollar4).
Von der Disruption zur Evolution
Generell versuchen alle Unternehmen mit ihren Technologien, Produkten und Dienstleistungen Kunden zu gewinnen. Ist ein Unternehmen erfolgreich, wird es versuchen, diesen Erfolg zu konservieren. Dies führt praktisch immer dazu, dass aus einer disruptiven Entwicklung nach und nach eine evolutionäre Entwicklung wird. Viele Unternehmen bieten jedes Jahr neue Versionen ihrer bekannten Produkte und das Gewicht der Neuerungen nimmt zumindest gefühlt pro Version ab – ein typisches Zeichen für Evolution. Fast könnte man rufen: „Disruption in kleinen Mengen. 200 Gramm Disruptiv, bitte.“ Worauf Unternehmen allerdings wirklich achten sollten, ist „The Innovator’s Dilemma“, wie es Christensen beschrieb: Durch den Erfolg mit bestehenden Produkten können Unternehmen den Zeitpunkt verpassen, wenn etwas gänzlich Neues entsteht und aus einem Mobiltelefon und einem PDA auf einmal ein Smartphone wird. Wer diesen Zeitpunkt verpasst, wird es schwer haben, ähnliche Erfolge mit Me-too-Strategien zu erzielen. Umso wichtiger könnte es dann werden, mit einer neuen, disruptiven Innovation bestehende Technologien, Produkte oder Dienstleistungen zu verdrängen.
Hinweise
[1] „The Innovators Dilemma: Warum etablierte Unternehmen den Wettbewerb um bahnbrechende Innovationen verlieren“, Clayton M. Christensen, Verlag: Vahlen, 2. Auflage, ISBN-13: 978-3800637911
[2] Disruptive Technologie, wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Disruptive_Technologie
[3] Tabletcomputer, wikipedia, https://de.wikipedia.org/wiki/Tabletcomputer
[4] Umsatz mit Apple iPhones weltweit, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/12761/umfrage/umsatz-durch-apple-iphones-seit-2007-nach-quartalen/
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