Agil: schnell, flexibel … und gestresst?
Agil? Nein danke!?
„Wir arbeiten jetzt agil!“ – immer öfter höre ich diesen Satz inzwischen in meinem privaten Bekanntenkreis, und nicht selten ist er mit Augendrehen und Kopfschütteln verbunden: „Hör mir bloß auf damit!“ Die da oben, heißt es dann, haben das beschlossen, wir haben jetzt Scrum Master, Product Owner, Agile Coaches, Sprints und vor allem Chaos, noch mehr Meetings und noch mehr zu tun als vorher schon. Die Folge? Zunehmende Überlastung, Desorientierung, wachsender Stress und Frustration. „Agilität“ wird als nichts weiter betrachtet als eine weitere Sau, die durchs Dorf getrieben wird, und ist als Begriff vielerorts schon längst verbrannt. Der gefühlt hundertsten Transformation oder Change-Initiative im Unternehmen wird wenig Interesse und Begeisterung und entsprechend wenig unterstützender Elan entgegengebracht, eher schon genervte grundsätzliche Skepsis und innere Ablehnung.
Mich als begeisterte Agilistin trifft das jedes Mal zutiefst. Denn ich verbinde mit Agilität etwas ganz anderes: Wertschätzung von Wissensarbeit, stetige Verbesserung und Teamentwicklung, selbstorganisiertes Miteinander, Transparenz und klare, schrittweise Ziele hin zu einer sinnvollen „Vision“. Fokus statt ständiger Zerrissenheit, regelmäßige Überprüfung, ob man bei all der vielen Arbeit denn auch das Richtige tut, sichtbare Zwischenerfolge und somit auch immer mal wieder Grund zum Feiern. Alles Dinge, die ich in vielen Jahren Projektarbeit in Matrixorganisationen schmerzlich vermisst habe. So sehr, dass ich es irgendwann nicht mehr aushielt, der Stress bedrohlich überhand nahm und ich diesem Job den Rücken kehrte.
Und so begann mein persönlicher Weg zu Agile, zunächst auf einem „Umweg“: In Verbindung mit einer Ausbildung als Trainerin und Coach widmete ich mich dem, was ich und viele meiner Kollegen in der Situation dringend gebraucht hätten: der Entwicklung von Resilienz. Resilienz bezeichnet die menschliche Fähigkeit, die kleinen und großen Krisen des Lebens nicht nur psychisch gesund zu überstehen, sondern sogar daran zu wachsen. Im Kern stehen für mich dabei die Fähigkeiten zur reflektierten Selbstwahrnehmung, zur Selbstfürsorge und Selbstentwicklung, verankert und verbunden mit einer von Grund auf positiven, lösungsorientierten Grundhaltung, Akzeptanz gegenüber dem Unveränderlichen und einer aktiven Gestaltung von Beziehungen. Der Weg dorthin bedeutet auch, eine ganz persönliche, innere Verbindung mit Sinn, Zielen und Werten zu finden, und auf vielfältige Weise und tagtäglich ein Quäntchen mehr Glück.
Agilität und Resilienz: Passt!
Im Umfeld meines Trainerdaseins stieß ich irgendwann unweigerlich auf das neue Buzzword: Agilität. Und sobald ich mich näher damit beschäftigte, hatte es mich gepackt: Die Grundhaltungen, die Prinzipien, das positive Menschenbild, das gesamte Konzept der Agilität steht in wunderbarer Resonanz und großer Übereinstimmung mit all dem, was ich seit Jahren in meinen Resilienztrainings den Teilnehmern mit auf den Weg geben kann. Das inspirierte mich zu einem eigenen neuen Begriff dafür: Agilienz, ein Mindset der vielschichtigen Krisen- und Veränderungskompetenzen für Menschen, Teams und Unternehmen, das wir in der heutigen Zeit mehr und mehr brauchen.
Ich habe seither viele Menschen kennengelernt, die diese Haltung erfolgreich leben und entwickeln und mit ihrem ausgeprägten gesunden Menschenverstand sehr kompetente und angenehme Mitmenschen sind. Und die „Entdeckung“ agilen Arbeitens gab mir eine lang ersehnte Antwort auf eine Beobachtung und Frage, die mich in zunehmendem Maße beunruhigte: Wohin sollen all diejenigen gehen, die ihre eigene Resilienz entdecken und entwickeln und gerade deshalb ihr bisheriges Arbeitsumfeld als inakzeptabel erkennen und kündigen? Dies war nicht nur meine persönliche Wahrnehmung, sondern wurde zu meinem Erschrecken auch bei renommierten Burnout-Autoren wie Matthias Burisch oder Thomas Bergner beschrieben. Ein solcher Trend ist ja weder für den Einzelnen noch für die Unternehmen oder unsere Gesellschaft eine gute Lösung.
Drei große Missverständnisse zum Thema Agilität
Wie kann es also sein, dass Agilität von den einen als bahnbrechend sinnvolle, produktive und wertschätzende Arbeitsweise wahrgenommen wird, von anderen aber schlicht als nur wieder noch mehr Belastung, Unterordnung und Stress?
Meiner Ansicht nach steckt dahinter eine Reihe grundlegender Missverständnisse zur Bedeutung von Agilität, von denen ich hier drei nennen will:
- Agilität wird „im Wörterbuchsinn“ verstanden: als hohes Maß an Schnelligkeit und Flexibilität, die jedes Unternehmen nach seinem eigenen Verständnis und auf seine eigene, meist wenig klar definierte Weise erreichen kann.
Hingegen bezieht sich „Agile“, also Agilität im Sinne der Unterzeichner und Vertreter des Agilen Manifests, der Begründer von Scrum und der „Agile Community“, auf ganz konkrete Werte und Prinzipien und teilt eine Vielzahl von teils recht kreativen oder sogar spielerischen Praktiken. Der Ansatz geht mehr oder weniger explizit davon aus, dass in kleinen, dedizierten Teams weitgehend selbstorganisiert und auf Augenhöhe gearbeitet wird. - Agilität wird als etwas verstanden, das sich in Form agiler Methoden und Praktiken einführen lässt (für Scrum bekannt als „Zombie Scrum“).
Agile hingegen versteht sich ausdrücklich als „Mindset“, also als eine die eigenen Handlungen und das Miteinander leitende innere Haltung. Scrum versteht sich explizit als Rahmenwerk und nicht als Methode. - Agilität wird in der Führungsetage als notwendiger, zeitgemäßer Weg zu mehr wirtschaftlichem Erfolg betrachtet und nach Plan umgesetzt.
Hingegen stellt Agile ganz explizit den Menschen, seine Wesensart und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt: als Mitarbeiter, als Teil eines Teams und vor allem als Kunden. Wirtschaftlicher Erfolg wird dabei als natürliche, fast unausweichliche Folge dieser „kopernikanischen Revolution im Management“ (Stephen Denning; beschrieben in “The Age of Agile”) betrachtet, indem (u.a.) durch klaren Fokus und stetige Lernzyklen flexibel und kontinuierlich wahrer Wert für den Kunden geschaffen wird.
Tipps: Ein gemeinsames Verständnis entwickeln
Nun kann man ja niemandem vorschreiben, wie er oder sie Agilität zu verstehen hat. Wer jedoch an die Begeisterung und die Erfolgsgeschichten anknüpfen will, die mit Agile verbunden werden, dabei aber etwas ganz anderes lebt und umsetzt, wird wohl meist genau das bewirken, was ich so oft zu hören bekomme: Stress, Frustration, Ablehnung, im schlimmsten Fall eine Kündigungs- oder Burnout-Welle. Ja, denn dann bedeutet Agilität: immer höheres Tempo, immer mehr geforderte Flexibilität, immer mehr Stress. Und wen wundert’s: zunehmend schwerwiegende Mitarbeiterunzufriedenheit und höherer Krankenstand.
Meine Tipps:
- Überall dort, wo Menschen und Firmen agil arbeiten wollen, sollten sich alle Beteiligten mit dem Agilen Manifest, den zwölf Agilen Prinzipien und wohl auch den für Scrum explizit formulierten Säulen empirischer Prozesskontrolle (Transparenz, Inspektion, Anpassung) und Werten (Commitment, Fokus, Mut, Offenheit, Respekt) vertraut machen. So können sie sich im Miteinander und den Entscheidungen der alltäglichen Arbeit gemeinsam darauf beziehen, um Agilität mehr und mehr im Sinne von „Agile“ zu leben. Bitte niemals: Scrum, ohne den Scrum Guide zu kennen.
- Wer sich wirklich darauf einlässt, wird in der agilen Welt bald weiteres entdecken, das nicht nur Stress mindert und Resilienz gedeihen lässt, sondern auch sehr bald die Produktivität fördert: Outcome über Output (Arbeitsergebnis über Quantität der Leistung), Pull statt Push in Bezug auf die Arbeitslast des Teams, Slack (Spielräume, sehr schön beschrieben von Tom DeMarco) statt ständiger Auslastung uvm.
- Wo dieses Mindset nicht passt, sei es, weil es in deutlichem Widerspruch zur Firmenkultur steht oder weil sich einzelne Mitarbeiter oder Führungskräfte in diesen Haltungen und Werten nicht wiederfinden, hilft es nicht, die Augen davor zu verschließen. „Agile“ muss nicht für alle und jeden die richtige Lösung sein, übrigens deklariertermaßen ja auch nicht für alle Formen der Arbeit. Der zusätzliche Stress und Reibungsverlust durch Wertekonflikte und Inkonsistenzen, wenn Agile draufsteht, aber nicht drinsteckt, ist nicht zu unterschätzen.
- Der wohl kraftvollste Aspekt agilen Arbeitens sind regelmäßige Retrospektiven (tolle Ideen dazu liefert zum Beispiel der “Retromat”) – wenn sie denn gut gemacht und genutzt werden. Wichtig ist dabei, nicht in den Reflex zu verfallen und nur über technische Dinge zu sprechen, sondern – ganz agil und resilient – vor allem auch die Menschen und ihre Zusammenarbeit in den Fokus zu stellen. Auch wenn es anfänglich zusätzlichen Stress bedeuten mag, erweist es sich fast immer recht bald als wertvolle Investition.
- Nicht vergessen: Jeder Wandel und jede Umorganisation bedeuten ein gewisses Maß an Stress. Es ist also nicht zu erwarten, dass mit „Agile“ von heute auf morgen alles besser wird. Mit einem agilen (und resilienten) Mindset geht es leichter, mit der klaren gemeinsamen Aussicht auf weniger Stress, mehr Zufriedenheit und höhere Produktivität.
Übrigens: Niemand mag es, wenn ihm angesagt wird, „Ab jetzt bist Du agil.“ Eine Einladung zur Entwicklung der eigenen Resilienz, um Wege weg vom nicht enden wollenden Stress und hin zu mehr Gelassenheit, Zufriedenheit und Selbstbestimmung zu finden, ist hingegen für fast jeden attraktiv. Und ich bin überzeugt: Wer seine Resilienz entdeckt hat, lebt im agilen Umfeld auf.
Erfahren Sie mehr über Agilienz auf der Website von Dr. Franziska Wiebel unter: https://www.agilienz.de/
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