Das fahrlässige Führen mit Experimenten
- Wie Blau und Rot den wirksamen Unterschied machen
- Qualität: Die Wirkung ist entscheidend
- Experimente sind in der Produktentwicklung mit eingrenzbarem Schaden nützlich…
- …doch Versuche in Bezug auf Menschen sind fahrlässig.
- Die Einführung von Scrum darf kein Experiment sein
- Versuchsanordnungen in sozialen Systemen erzeugen etwas, was sie lösen sollten
- Scheitern darf keine Option sein
- Die Berücksichtigung von Ökologie und Ökonomie sind relevant für organisatorische Veränderungen
- Zusammenfassung
- Systemänderungen vorab prüfen
Dass die Zukunft in Zeiten hoher Dynamik nicht planbar ist, hat sich herumgesprochen. Wir sprechen vom Fachbegriff der Komplexität – dem Risiko, ob ein Produkt gekauft oder planmäßig entwickelt wird und über die Unklarheit, ob ein Stakeholder seine Meinung spontan ändert. Es geht zudem um spontane Änderungswünsche des Kunden und unvorhersehbare Probleme. Hürden, die erst nach dem Projektstart sichtbar werden. Solche Situationen sind in der Praxis genauso üblich wie Mitarbeiter, die aufgrund geänderter Prioritäten das Projektteam wechseln. Es sind Einflussfaktoren, die das Risiko für Niederlagen steigern. Niemand kann sie vorhersehen. Die Blueprint-Suche beginnt. Doch Führungspersönlichkeiten sind nicht unsicher. Beim Erreichen der Bewusstheit über diesen Umstand setzt oftmals unmittelbar die Sehnsucht nach Handlungsempfehlungen ein.
Die Sehnsucht nach Handlungsempfehlungen
Hohe Komplexität ist in einzelnen Branchen seit Jahrzehnten der Status quo. Daher bieten Pioniere zahlreiche Tools, Methoden und Frameworks an. Doch was steckt dahinter? Handelt es sich dabei um Beruhigungsmittel in Form von Best Practices oder tatsächlich wirksame Empfehlungen? Wie hoch ist das Risiko, dass diese Ansätze unwirksam bleiben? Angenommen sie sind in der Anwendung fehleranfällig, passen nicht zum Kontext oder erreichen eine gegensätzliche Wirkung?
Die Denkpyramide
Wie Blau und Rot den wirksamen Unterschied machen
Silke Herrmann, Gerhard Wohland und Niels Pfläging unterstützen hierbei mit ihren Veröffentlichungen. Sie visualisieren die Differenz von kompliziert und komplex mit »Blau« (tot) und »Rot« (lebendig).
Lebendig und komplex oder tot und kompliziert
Wenn Sie die Bücher dieser Autoren kennen, wissen Sie: Ein blaues Werkzeug für ein rotes Problem funktioniert nicht. Deswegen sind langfristige Pläne in unvorhersehbaren Situationen kaum nützlich. Die nachfolgenden Beispiele verdeutlichen die mangelnde Passung:
- Bei der Suche nach einer Idee oder einer Geschäftsidee hilft kein Business Canvas.
- Auf der Suche nach Führungspersönlichkeiten sind Eignungstests eher ungeeignet. Mit ihnen lassen sich Experten für Tests identifizieren, nicht aber die Person, die die größte Akzeptanz im Team erreichen könnte.
- Die Mitarbeiterentlohnung in Abhängigkeit zu einer Zielvorgabe senkt die Arbeitsqualität. Das Tool fokussiert die Beteiligten auf das Erreichen von Bonuszahlungen.
Qualität: Die Wirkung ist entscheidend
Bei der Anwendung von Blau auf Rot passiert im besten Fall nichts. In der ungünstigsten Situation entsteht Schaden in Form von Zeit-, Geld- oder Energieverschwendung. „Destruktives Handeln erzeugt mindestens ein Problem mehr, als zuvor vorlag.“ Somit darf es Ziel von Führung sein, konstruktives Vorgehen zu wählen. Es hilft eine durchdachte Vorbereitung. Darüber hinaus eine Komponente, die am Ende des Artikels genauer erläutert wird. Wir wollen uns zunächst einer Vorgehensweise widmen, die dem ersten Ansatz widerspricht. Eine Empfehlung, die an vielen Ecken auftaucht: das Durchführen von Experimenten im sozialen Kontext. Das Thema wird in der agilen Community heiß diskutiert.
Experimentieren im sozialen Kontext
Vorab ist zu sagen, dass Experimente perfekt für die Feature- und Produktentwicklung geeignet sind. Hierbei wird in kurzen Entwicklungszyklen von ein bis vier Wochen ein vorzeigbares Inkrement erstellt. Das ist nützlich. Der Kunde kann somit frühzeitige Rückmeldungen geben. Sie fließen in die weitere Entwicklung ein. Es entsteht ein akzeptiertes Produkt, welches den Kundenerwartungen entspricht.
Experimente sind in der Produktentwicklung mit eingrenzbarem Schaden nützlich…
In der Summe ist das wirtschaftliche Risiko durch die begrenzte Zeitspanne kalkulierbar und durch das Vorgehen transparent. Im schlimmsten Fall wird die Arbeit von wenigen Wochen verworfen.
…doch Versuche in Bezug auf Menschen sind fahrlässig.
Bei sozialen Veränderungen verhält es sich oftmals anders. Ein typisches Beispiel ist die Einführung von Scrum. Dieser Managementrahmen ist hochwirksam in riskanten Projekten – keine Frage. Er ist ebenfalls leicht etablierbar. Allerdings bringt er einige Wenden im Team- und Organisationssystem mit, die im Vorfeld einige Maßnahmen erfordern. Diese kosten Zeit, Geld und Energie. Die Bereitschaft der Beteiligten ist zwingend notwendig. Es geht schließlich um eine systemische Veränderung, die die Arbeits- und Denkweise stark beeinflusst. Die „bottom-up“ Einführung von Scrum als ergebnisoffenes Experiment ist daher nicht nur fahrlässig, sondern darüber hinaus nach den LEAN-Prinzipien eine Form von Verschwendung. Warum? Weil hier üblicherweise ein schleichender Prozess initiiert wird, der die Beteiligten später zwingt, ihr Verhalten zu ändern. Dabei macht es keinen Unterschied, ob der Versuch angekündigt wird oder nicht. „Wir probieren das einfach mal aus“ ist ein Totschlagargument, dem bisher nur wenige Menschen entgegenwirken. Der Initiator lässt dafür oftmals keinerlei Raum. Es entsteht Veränderungsmissbrauch.
Die Einführung von Scrum darf kein Experiment sein
Sie erfordert Vorbereitung. Experimente klingen so leichtgewichtig. Man denkt an naturwissenschaftliche Versuche, durch die etwas entdeckt, bestätigt oder gezeigt werden soll. Was soll daran schon schief gehen? Einiges. Denn wenn berechtigte Einwände von Menschen im Vorfeld abgewimmelt werden, schweben sie wie ein kleiner Luftballon über dem Vorhaben. Dieser ist in jedem Meeting präsent, zeigt sich im Umgang miteinander und in der Arbeitsweise. Eine Gegenreaktion ist der Hinweis für ein fehlerhaftes Vorgehen. Ein Team reagiert, wenn es merkt, dass ein fahrlässiges Experiment durchgeführt wird – besonders bei der Einbindung als Versuchsobjekt. Bei Missachtung droht Eskalation. Der Ballon des Zweifels strahlt: „Wir wissen nicht, ob die gewählte Vorgehensweise funktioniert“. Das steigert die Unsicherheit: „Wird das Experiment gelingen?“
Versuchsanordnungen in sozialen Systemen erzeugen etwas, was sie lösen sollten
Ein typische Haltung beim Experimentieren
Manche werden eine Wette darauf setzen, dass das Vorhaben nicht funktioniert, andere dagegen. Das ist Pulver für unterschwellige Spannungen. Vor allem gibt es den Beteiligten die Macht, auf das Ergebnis einen Einfluss zu nehmen. Egal, wie der Versuch ausgeht, eine Partei wird verlieren. Es schafft eine Win-Fail-Situation. Die Energie im Team wirkt gegensätzlich. Der Flow stagniert. Zudem wirken gescheiterte Vorhaben auf das Ansehen als Führungspersönlichkeit. Sie senken das Vertrauen. Die Bereitschaft zukünftig einer Idee zu folgen, wird sich reduzieren.
Scheitern darf keine Option sein
Ein lockerer Umgang mit dem Scheitern – also der Niederlage, aus der kein Ausweg führt, ist wirtschaftlich und menschlich fatal. Es ist der Ruin. Daher sind derartige Kulturen absolut destruktiv. Was hilft, ist eine akzeptierte Absichtsformulierung A und eine Alternative, falls A nicht funktioniert. Beides kann kooperativ erarbeitet werden. Die Qualität und die Akzeptanz werden steigen. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es gelingt. Eine Erfolgsgarantie gibt es nicht, aber es schafft soziale Sicherheit. Durch die gemeinsame Auseinandersetzung wird Raum zum Denken geschaffen. Die Möglichkeit für Win-Win-Situationen.
Die fokussierte Haltung beim Experimentieren
Die Berücksichtigung von Ökologie und Ökonomie sind relevant für organisatorische Veränderungen
Wie ist das, wenn Mitarbeiter im Unternehmen experimentieren? Darf das jeder? Sollte das jeder dürfen? Sind Organisationssysteme Orte für experimentelle Operationen am offenen Herzen? Verfügt Ihre Organisation über einen Forschungsauftrag oder das Ziel der Wertschöpfung? Glücklicherweise zeigt die Erfahrung, dass aus dieser Haltung heraus die meisten Versuche frühzeitig misslingen. Das liegt an der oben geschilderten Reibungsenergie, die dabei entsteht. Haben Sie mal probiert in einem klassischen Meeting das „Gesetz der zwei Füße“ anzuwenden? Sind Sie auf eine Einladung des Vorgesetzten nicht erschienen oder haben das Meeting verlassen? Das sind soziale Experimente, die im Zweifel den Job kosten können. Änderungen mit systemischen Ausmaßen sind daher umso kritischer zu betrachten. Was hierbei hilft, ist die Analyse, wer von der Maßnahme profitiert, was dafür aufgegeben werden muss und wer mit einbezogen werden sollte. Das ist sozusagen der Ökocheck. Der Beweise ob eine Hypothese korrekt oder falsch ist, einfach egoistisch und schafft oftmals nur wenig Mehrwert für andere. Darauf kommt es allerdings an.
Zusammenfassung
Sie nehmen aus diesem Artikel hoffentlich mit, das Experimente riskante und ergebnisoffene Interventionen für soziale Systeme sind. Das ist wie Fahren unter Alkoholeinfluss. Mit 160 km/h durch den Stadtverkehr. Das Gehirn betäubt. Es ignoriert die Warnsignale. Die Ankunft hängt von vielen Umständen ab. Es ist die Abgabe der persönlichen Macht. Somit kann die Reaktion eines menschlichen Systems ebenso plötzlich erfolgen wie ein Crash bei einer betrunkenen Autofahrt. Die Auswirkungen sind vielfältig:
- Interne Konflikte entstehen
- Team müssen neu geformt werden
- Mitarbeiter kündigen oder werden gekündigt
- Performance sinkt, das führt zur Unzufriedenheit von Kunden
- Der Kunde droht mit Vertragsstrafen
- …
Es handelt sich um Formen der Verschwendung, die durch effiziente Vorgehensweise vermieden werden können. Hierbei helfen keine Handlungsempfehlungen, Best practices oder Blueprints, sondern das Vordenken. Modelle an sich, sind erstmal nicht für einen Schaden verantwortlich. Sondern die ordnungsgemäße Kommunikation und dessen Anwendung. Das gilt für Autos wie für Experimente. Der Unterschied besteht darin, dass es für das Fahren unter Alkoholeinfluss neben Gesetzen auch eine Vielzahl an Erfahrungen gibt. Im sozialen Kontext sind die Zusammenhänge komplex und die Grenzen unklar. Dort helfen keine Regeln. Wichtig sind Ethik, Vernunft und eine systemische Vorgehensweise, die das Denken integriert. Das steht allerdings bei den meisten Handlungsempfehlungen nicht dabei.
Systemänderungen vorab prüfen
Mit dem Ökocheck können Vorhaben überprüft werden. Durch die Einbindung der Beteiligten wachsen die Qualität und die Akzeptanz von Absichtsformulierungen. Die Wirksamkeit zeigt sich am positiven Ergebnis: es gibt eine Unannehmlichkeit weniger. Abschließend lässt sich sagen: Handlungsempfehlungen beruhigen, doch sie helfen nicht bei der Vorbereitung und können sich sogar destruktiv auswirken. Sie stehen häufig dem kontextspezifischen Denken entgegen – das ist es, was agile Prinzipien erreichen wollen: die Anpassung auf den Kontext. Inspect & Adapt – Beobachten und Anpassen. Das Unvorhersehbare ist nicht ausblendbar, aber ein konfliktfreies Umfeld, das an einem Strang zieht, steigert die Resilienz, um damit lösungsorientiert umzugehen.
Wenn Sie jetzt auf das Thema hungrig geworden sind, können Sie gerne in meinem Blog (http://www.koglin.net/) weitere Artikel darüber lesen. Wie Denkräume neu geschaffen werden können, ist auch Thema meines aktuellen Buches „Agil moderieren“.
Darüber hinaus biete ich regelmäßige Trainings zu Scrum, Agile und Co. an. Mit der Anmeldung zum E-Mail-Newsletter können Sie sich kostenlos darüber informieren lassen. Diese Möglichkeit finden Sie auf der Webseite (http://www.koglin.net/) in der rechten Seitenleiste. Das nächste interaktive Scrum-Training findet am 3. Juni 2016 in der Nähe von Kassel statt.
Das Experimente in sozialen Systemen mit Fahren unter Alkoholeinfluss verglichen wird, ist aber eine kecke These. 1972 wurde in NRW die reformierte Oberstufe eingeführt. Das tat man nicht, ohne vorher einige Schulen diese erproben zu lassen. Gerade bei großen Organisationen ist es wichtig, dass man die Zukunft nicht allein am schwarzen Brett macht, sondern auch mit Experimenten Erfahrungen sammelt und dann sicherer den Wandel zu bewältigen.
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-42891813.html
Eine andere Perspektive ist der Wandel durch Startups. Erzkonservative Pensionsfonds wie Calpers (Kalifornische Beamtenpensionsfond) legen z.B. 4% ihres Anlagevermögens in Startups an. Da ist völlig ergebnisoffen, ob die performen werden. Es sind hochgradig soziale Experimente, das es das soziale System „Startup“ vorher nicht gegeben hat. Werden die Akteure miteinander können? Werden sie sich auf dem Markt mit ihrer Idee behaupten können? Wird das Produkt hinreichende Marktreife haben? Meist sind Startups heute mit Software verknüpft und damit oft auch halbautomatisch mit Scrum. Auf solche Experimente wie Startups dogmatisch zu verzichten, halte ich nicht für richtig.
Auch das dogmatische Verteufeln des Scheiterns halte ich für eine überkommene deutsche Tradition, die es in Amerika nicht gibt. Deshalb gibt es dort auch Google, Facebook, EBay, Tesla, Amazon und bei uns nicht.
Zum Kultur des Scheiterns empfehle ich dringend auch das Wut-Video des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner im Düsseldorfer Landtag:
https://www.youtube.com/watch?v=skvOKFbtr3E
Hallo Herr Ksoll,
das ist aber doch kein dogmatisches Verteufeln des Scheiterns. Ich warne lediglich davor. Denn Scheitern ist endgültig. Das tut weh und hat negative Konsequenzen. Oftmals weitläufige Folgen.
Vor allem wenn daran ein Unternehmen dran hängt wie in Ihrem gewählten Beispiel des Startups. Insolvenz ist einfach scheiße. Statistiken zeigen inzwischen wie locker mit dem Thema umgegangen wird. Das ist einfach fahrlässig.
Fehler und Irrtümer die sind nicht vermeidbar. Daraus kann man lernen. Allerdings nicht mit der Intension: Wenn ich Fehler mache, lerne ich. Das ist ein Denk- und Haltungsfehler der inzwischen wiederholt propagiert wird.
Startups sind aus meiner Sicht auch nicht als Experiment zu betrachten. Die meisten haben nämlich ziemlich gute Ideen. Wer jedoch experimentierfreudig investiert ist aus meiner Sicht selbst Schuld.
Ich kann mir auch schlecht vorstellen das mit der Oberstufe experimentiert wurde. Viel eher vermute ich, das hier gezielt und schrittweise ausgerollt wurde – was ok ist. Das ist der Unterschied auf den der Artikel hinweisen soll: Führung muss wissen was sie tut, ansonsten darf keine Entscheidung getroffen werden – das wäre fahrlässig.
Vielleicht konnte ich hiermit noch einmal offenlegen das es mir um den Unterschied im Denken und in der Haltung geht.
Viele Grüße
Patrick Koglin