Das Individuum im Team
In vielen Unternehmen ist Teamarbeit eine beliebte Form der Zusammenarbeit. Es gibt Teams auf allen Ebenen und in allen Bereichen. Es gibt Projektteams, Arbeitsgruppen und Task Forces. Ausschüsse werden gebildet, Boards einberufen und virtuelle Teams gegründet. Jedes einzelne Teammitglied leistet seinen Beitrag zum Gesamtergebnis des Teams. Doch welchen Umfang hat die Leistung eines einzelnen Teammitglieds tatsächlich? Was treibt ein Individuum an, in einem Team engagiert zu arbeiten? Und warum bringt ein Teammitglied Leistung, auch wenn diese nicht immer sicht- oder messbar ist?
Die Erkenntnisse von Maximilien Ringelmann
Der französische Agraringenieur Maximilien Ringelmann veröffentlichte 1913 die Ergebnisse eines Experiments, das er von 1882 bis 1887 durchgeführt hatte. Bei Versuchen zum Ziehen von Lasten fand Ringelmann heraus, dass die Leistung von Pferden, Ochsen und auch von Menschen in Gruppen kleiner ist, als die Summe der Leistungen, die jeder für sich alleine erbringen würde. Je mehr Menschen Ringelmann gleichzeitig an der Last ziehen ließ, desto weniger Leistung erbrachten die einzelnen Teilnehmer.¹ Im Durchschnitt investierten Personen, die zu zweit an einem Tau zogen, nur je 93% ihrer Kraft. Bei drei Personen waren es nur je 85%, bei 8 Personen nur noch 49%.²
Sieht komisch aus, ist aber das Ergebnis, wenn zwei Menschen gemeinsam eine Last ziehen.
Maximilien Ringelmann vermutete, dass der Leistungsabfall sowohl an mangelnder Koordination (denn die Teilnehmer mussten ja möglichst simultan ziehen) als auch an verringerter Motivation der Teilnehmer liegen könnte. Zwei Punkte, die auch in Unternehmen heutzutage zu beachten sind.
Die Trennung von Koordination und Motivation
Teamarbeit muss koordiniert werden. Es gilt Ziele zu vereinbaren, Aufgaben zu definieren, Verantwortlichkeiten zu bestimmen, Zeit- und Budgetrahmen festzulegen, ein Vorgehen zu verabreden, Kommunikationskanäle zu etablieren und zu nutzende Tools auszuwählen. Vielleicht müssen andere Teams informiert oder sogar temporär integriert werden. Regelmäßige Abstimmungsrunden werden terminiert, Berichte erfasst, Fortschritte dokumentiert und mit Stakeholdern wird kommuniziert. Eine mangelnde Koordination kann zu einem Leistungsabfall und auch einer sinkenden Motivation von Teammitgliedern führen. Das wollen Unternehmen natürlich vermeiden. Wichtiger für die Arbeit in Teams könnte aber die individuelle Dimension einer Teammitgliedschaft sein.
Teammitgliedschaft als individuelle Dimension
Was verbinden Sie mit dem Begriff „Team“? „Eine Gruppe von mindestens zwei Personen, die arbeitsteilig ein definiertes Ergebnis, in einer festgelegten Art und Weise, und in einem definierten Zeit- und Kostenrahmen produziert.“ Oder: „Ein Zusammenschluss von Menschen, die gemeinschaftlich eine Aufgabe lösen.“ Oder …
Vermutlich gibt es unzählige Definitionen des Begriffs “Team”, die einander ähneln und etwas in Worte fassen, wofür es mehr oder weniger ein kollektives Verständnis gibt. Für die Teammitgliedschaft kann es aber verschiedene, individuelle Dimensionen³ geben:
- Erlebnis-Dimension: Teammitglieder empfinden sich als Gemeinschaft Gleichgesinnter, als verschworene Gemeinschaft mit einer inneren Verbundenheit zum Team.
- Aufgaben-Dimension: Teammitglieder nehmen eine Aufgabenstellung als sachliche oder fachliche Herausforderung wahr, die durch Spezialistenwissen gemeinschaftlich gelöst wird.
- Image-Dimension: Teammitglieder verbinden ein positives Image mit dem Team. Sie erfahren Wertschätzung, sind stolz auf die Mitgliedschaft im Team oder sehen strategische Vorteile in der Teilhabe.
- Krisen-Dimension: In schwierigen Zeiten finden sich Teams – bspw. als Task Force – sehr schnell und funktionieren dann sehr gut. Bei „Angriffen von außerhalb des Teams“ verteidigen sich Teammitglieder gegenseitig und das Team ganzheitlich. Das Team bildet eine feste Einheit, die allerdings nicht immer von langer Dauer ist.
- Prozess-Dimension: Teammitglieder verfolgen das gemeinsam gesetzte Ziel bereichs- und abteilungsübergreifend und auch über unterschiedliche Unternehmenshierarchien hinweg. Das gemeinsame Interesse und der Prozess auf dem Weg zum gesetzten Ziel stehen im Vordergrund.
- Ergebnis-Dimension: Der Schwerpunkt im Team liegt auf den zu erzielenden Ergebnissen. Fasziniert von der gemeinsamen Aufgabe bringen sich Teammitglieder ein. Heiligt aber der Erfolg die Mittel, werden also die Bedürfnisse einzelner Teammitglieder ignoriert, leidet die Zusammenarbeit.
Die individuelle Dimension hat direkten Einfluss auf die jeweilige Motivation der Teammitglieder. Wer sich als Mitglied einer Gemeinschaft versteht, wird sich aktiv in diese einbringen. Wer eine Aufgabenstellung als Herausforderung begreift, wird sich dieser stellen und will sie meistern. Wer dagegen das Gefühl hat, in einem Team nicht gehört zu werden, wird sich weniger in die Teamarbeit einbringen. Wer den Eindruck hat, dass er immer mehr als alle anderen leisten muss, um das Ziel zu erreichen, wird auf Dauer vermutlich nur noch ca. 48% bis 93% seiner Kraft investieren.
Die Sichtbarkeit und Messbarkeit der individuellen Leistung
Wie kann es sein, dass Teammitglieder bewusst oder unbewusst nicht ihr Maximum an Kraft, Konzentration und Engagement einbringen? Neben der individuellen Dimension kann hier die Sichtbarkeit und Messbarkeit der individuellen Leistung maßgeblich sein. Wissen Sie, wie der letzte „Weltfußballer des Jahres“ heißt, der nicht als Stürmer oder offensiver Mittelfeldspieler ausgezeichnet wurde? Kennen Sie neben Usain Bolt ein weiteres Mitglied der jamaikanischen 4*100 Meter Herrenstaffel, die gerade bei den olympischen Spielen in Rio de Janeiro gewonnen hat? Oder wie heißen die deutschen Ruderinnen des Damen-Doppelvierers, die für ihren Sieg mit Gold-Medaillen belohnt wurden?4 Keine Sorge, vermutlich kann nicht einmal ein großer Sportfan alle drei Fragen beantworten. Und das kann verschiedene Gründe haben: Vielleicht beschäftigen Sie sich nicht mit Sport und die Antworten sind Ihnen total egal. Das wäre verständlich. Oder Sie wussten eine Antwort, haben sie aber wieder vergessen, denn sie besitzt für Sie keinerlei bleibende Relevanz. Oder Sie wissen die Namen nicht, da es sich sowohl beim Fußball, beim Staffellauf in der Leichtathletik und beim Rudern um Mannschaftssportarten (also um Teams) handelt und bei Teams steht die Teamleistung, also das Gesamtergebnis im Vordergrund. Bei allen drei Sportarten hätte kein Team ohne die individuellen Leistungen aller Teammitglieder gewinnen können. Usain Bolt hätte ohne seine drei Teamkollegen alleine gar nicht starten dürfen. Wenn nur zwei Damen gerudert wären und zwei hätten dabei zugesehen, würden sie vermutlich heute noch rudern.
Lässt sich individuelle Leistung erkennen oder gar messen? Manchmal. Im Sport häufig leichter als bei der Projektarbeit in Unternehmen. Beim Staffellauf werden die Zeiten jedes Läufers erfasst, so dass sehr genau feststeht, wie groß der Anteil des Individuums am Gesamterfolg ist. Beim Fußball werden Tore und Vorlagen pro Spieler gezählt oder Rettungstaten der Torhüter. Auf Mannschaftsebene, und die ist und bleibt letztendlich maßgebend, werden Siege und daraus resultierende Punkte gewertet.
Was bei Mannschaften zutrifft, tritt auch bei Teams in Unternehmen auf. Unternehmen müssen sich mit Teams und Teammitgliedern auseinander setzen. Sie müssen erkennen, welche Kennzahlen wichtig sind und wie das Zusammenspiel im Team optimiert werden kann. Was bleibt ist aber die unbeantwortete Frage nach den Individuen im Team: warum sollte sich ein Individuum maximal anstrengen, wenn seine individuelle Leistung nicht oder nur sehr schwierig zu messen ist?
Die Wertschätzung der individuellen Leistung
Ein sehr wichtiger Grund, warum Teammitglieder neben der individuellen Dimension Leistung im Team erbringen, ist die Wertschätzung, die sie für ihren Einsatz erhalten. Diese Wertschätzung kann aus verschiedenen Richtungen erfolgen:
- im Team durch andere Teammitglieder.
- von “außen” durch Vorgesetzte.
- von “außen” durch andere Teams oder andere Mitarbeiter im Unternehmen.
- von “außen” durch eine Jury oder eine “unabhängige Instanz”.
Und vielleicht der interessanteste Punkt:
- durch das Individuum selbst.
Individuelle Leistungen, die nicht für alle und jeden messbar sind, können dennoch gesehen werden. Auch wenn Leistungen schwierig zu messen sind, können sie sichtbar sein. Und sie können beurteilt werden. Teammitglieder im Projekt kennen viele Details und Probleme, und sehen wie sich andere Teammitglieder damit auseinander setzen. Sie können Rückmeldungen und Hilfestellungen geben und dabei kommunizieren, dass individuelle Leistungen wichtig für den Teamerfolg sind. Sie wertschätzen die Leistung des Individuums. Auch Vorgesetzte können Eindrücke von jedem einzelnen Mitarbeiter und den Beiträgen eines einzelnen Mitarbeiters haben. Und diese Eindrücke sollten sie kommunizieren. Mitarbeiter erhalten so Feedback über ihre Leistungen, ihren Einsatz und das erzielte Ergebnis. Und auch wenn Mitarbeiter außerhalb eines Teams wenig Interna kennen, können auch sie einen Eindruck haben. Einen Eindruck vom Zusammenhalt und den Ergebnissen eines Teams und auch vom Einsatz und der Wirkung einzelner Teammitglieder. Final gibt es noch die Bewertung durch „unabhängige Instanzen“, von Juroren bei Wettbewerben, von Auditoren und Coaches. Letztlich bekommt jedes Mitglied eines erfolgreichen Sportteams eine Einzelmedaille und damit eine individuelle Wertschätzung. Und in Unternehmen sollte dies genauso sein.
Wie zufrieden sind Sie eigentlich mit Ihren Arbeitsergebnissen? Vielleicht passt eine der folgenden Antworten:
- Die Ergebnisse sind gut und ich bin meistens zufrieden.
- Die Ergebnisse sind gut – ich bekomme häufig Lob – finde aber dass sie noch besser sein könnten.
- Die Ergebnisse sind gut, aber ich finde, ich sollte noch schneller arbeiten und noch mehr leisten.
Ihre Antwort gibt Ihnen einen Hinweis auf die Wertschätzung, die Sie sich selbst entgegen bringen. Sie zeigt, wie Ihre persönliche Einstellung und Wertschätzung Ihrer eigenen Leistung ist. Es könnte sein, dass das Projekt im Team erfolgreich durchgeführt wurde und Sie dennoch nicht zufrieden mit Ihrer Leistung sind. Es könnte auch genau anders herum sein – das Projekt ist gescheitert und dennoch sind Sie mit Ihrem Einsatz zufrieden. Diese Wertschätzung, die Sie sich selbst entgegenbringen, ist vielleicht der wesentlichste Faktor, warum sich Individuen in Teams nach besten Kräften einbringen, auch wenn die eigene Leistung vielleicht nicht sichtbar und auch nicht messbar ist. Sie ist sichtbar für Sie. Sie hat einen Wert für sich und für Sie selbst als Individuum.
Es gibt ein “I” in “TEAM” – ein “I” für Individuum
Hinweise
[1] Der Ringelmann-Effekt, https://de.wikipedia.org/wiki/Ringelmann-Effekt
[2] Rolf Dobelli, Die Kunst des klaren Denkens, erschienen im Carl Hanser Verlag München, “Social Loafing – Warum Teams faul sind”
[3] Dr. Christoph V. Haug, Erfolgreich im Team, erschienen bei Beck-Wirtschaftsberater im dtv, 5. Auflage, “Was ist ein Team, was kann es leisten?”
[4] Fabio Cannavaro gewann als italienischer Innenverteidiger die Auszeichnung Weltfußballer des Jahres 2006. Mit ihm als Kapitän wurde in diesem Jahr Italien Fussball-Weltmeister bei den Herren. Als defensiver Spieler gewann ansonsten lediglich Lothar Matthäus den Titel 1991. Annekatrin Thiele aus Leipzig, Carina Bär aus Heilbronn, Julia Lier aus Halle/Saale und Schlagfrau Lisa Schmidla aus Krefeld gewannen Gold im Doppelvierer bei den olympischen Spielen. Und Asafa Powell, Yohan Blake und Nickel Ashmeade bildeten mit Usain Bolt die jamaikanische Staffel.
An sich stehen hier Selbstverständlichkeiten die jeder weiß und tausendmal gesagt und gehört hat.
Warum setzen wir dies nicht um?
Ist doch ganz einfach – oder ?
Vielen Dank Herr Schenkel für diese wertvollen und täglich umsetzbaren Erkenntnisse. Wertschätzung, ehrlich, kostet nicht mal etwas und ist doch so schwierig.
Hallo Herr Schenkel,
ich habe mich sehr gefreut, dass Sie an der Blogparade teilnehmen. Durch ihren Artikel ist mir bewusst geworden, wie wichtig Wertschätzung in der Teamarbeit ist – gerade damit der Einzelne seinen Anteil an der Gesamtleistung schätzen kann und bereit ist seinen Beitrag zum Ganzen zu leisten, Und sie trägt dazu bei, dass der einzelne erkennen kann, wie wichtig sein Beitrag zum Gelingen des Ganzen ist. Das sind sehr aufbauende Erkenntnisse. Danke ihnen dafür
Herzlichst
Martina Baehr