Der Tanz um das Problem
Tanzen ist etwas Herrliches. Die Bewegung zur Musik, das harmonische Schwingen miteinander als Paar nach einer Melodie oder der rituelle Tanz um ein Feuer, um Götter versöhnlich zu stimmen – der Tanz begleitet uns als Brauch, als Kunst, als Sport oder schlicht als soziale Interaktion. Jetzt fragen Sie sich vielleicht: was hat Tanzen mit einem Problem zu tun? Was beschreibt der sogenannte „Tanz um das Problem“?
Zwei Beispiele – ein Problem
Um zu erläutern, was mit dem „Tanz um das Problem“ gemeint ist, möchte ich Ihnen zwei Beispiele geben:
- Stellen Sie sich vor Sie haben ein Problem. Natürlich werden Sie versuchen, dieses Problem zu lösen oder es zumindest zu bearbeiten. Eventuell lassen Sie sich auch im Rahmen einer Therapie helfen – mit einer Physiotherapie oder einer Psychotherapie, mit einer Musiktherapie oder mit einem erfahrungs- und erlebensorientierten Verfahren im Zuge einer Gestalttherapie. Mit dem Therapeuten erläutern Sie Ihr Problem, besprechen Auswirkungen auf Sie und Ihre Umgebung, beantworten Fragen zu dem Problem. Idealerweise entsteht die Hoffnung auf Beseitigung des Problems. Bis es aber zu einem Lösungsansatz kommt, kann je nach Therapierichtung einige Zeit ins Land gehen.
- Ärgern Sie sich manchmal über Ihren Chef? Ist es bei Ihnen auch schon vorgekommen, dass Sie Arbeitsaufträge ohne ausreichende Hintergrundinformationen erhalten? Ohne inhaltliche Ziele, Vorstellungen und sinnvolle Terminvorgaben? „Es soll möglichst vorgestern fertig sein“ und „Nein, weitere Informationen kann ich Ihnen auch nicht geben“ – so oder so ähnlich könnten die Aussagen lauten. Und was passiert, wenn Sie aufgrund der fehlenden Informationen und möglicherweise des fehlenden Wissens das Arbeitspaket weder sachgerecht fertig stellen noch das unbekannte Zeitlimit einhalten? Sie erhalten Vorwürfe. Und was machen Sie dann unter Umständen? Vielleicht gehen Sie zu einem Ihnen nahestehenden Kollegen und beschweren sich über diese Ungerechtigkeit. Sie nennen alle Details und vermutlich stimmt Ihr Kollege zu, weil er bereits solche Erfahrungen gemacht hat. Leider hatte auch sein Chef seinerzeit keine Zeit für ein klärendes Gespräch ….
Bei beiden Beispielen gibt es einen Dialog – einmal zwischen dem Therapeuten und seinem Gegenüber, einmal zwischen den Kollegen. Bei beiden Beispielen gibt es aber keine schnelle Lösung. Vermutlich wiederholen sich die beschriebenen Situationen sogar mehrfach und Eskalationen drohen. Das Problem bleibt stets im Mittelpunkt der Kommunikation. Das Denken und Handeln wird auf das Problem fokussiert und die Betroffenen greifen auf ihre Vergangenheitserfahrungen zurück. Dieses Szenario nennt man „den Tanz um das Problem“.
Tanzen ist etwas Herrliches, aber …
Die Wirklichkeitskonstruktion
Als Kinder gehen wir vorbehaltlos auf das Leben zu, sind neugierig und wollen das, was uns umgibt, gern erforschen und begreifen. Als Heranwachsende und Erwachsene greifen wir auf unsere bereits erworbenen Erfahrungen zu, nutzen durch unsere Umwelt vermittelte und eigene Werte, Vorstellungen und Erwartungen.
Niklas Luhmann¹ war ein wichtiger deutschsprachiger Vertreter der soziologischen Systemtheorie. Er ging davon aus, dass es
- ein biologisches (darunter ist der Körper eines Lebewesens zu verstehen),
- ein psychologisches (als Bewusstseinsprozess verstanden, wie er beispielsweise in einem menschlichen Gehirn stattfindet) und
- ein soziales (sprich kommunikatives)
System gibt.
Alle sind in sich als abgeschlossene Systeme existent und dennoch beeinflussen sie sich gegenseitig. Als Individuen sind wir von diesen „Systemen“ abhängig und unsere Gedankenwelt und Verhaltensweisen werden dadurch beeinflusst. Oder anders ausgedrückt: Wenn wir uns körperlich krank fühlen, hat dies einen Einfluss auf unser Bewusstsein und unsere Gedankengänge und unsere Kommunikation mit unserer sozialen Umgebung. Wenn wir uns hingegen wohl fühlen, sieht dies völlig anders aus und wir verhalten uns ebenfalls anders.
Genau WIE wir unser Denken und Handeln in der Gegenwart gestalten, das ist unsere gegenwärtige Wirklichkeitskonstruktion im Zusammenhang mit allen Beziehungsmustern. Wir konstruieren uns tagtäglich das, was wir Wirklichkeit nennen und für uns ist das auch wahr.
Um den Tanz um das Problem zu erörtern, gibt es Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion²:
- Wer reagiert am meisten auf das Problemverhalten, wer weniger? Wen stört es, wen nicht?
- Wie reagieren andere darauf?
- Wie reagiert das „Problemkind“ auf die Reaktionen der anderen?
- Wie reagieren die anderen auf die Reaktionen des „Problemkinds“? (Fragen stellen bis ein Kreislauf deutlich wird)
Diese Fragen machen aktuelle Beziehungsmuster deutlich. Sie zeigen auf, welche Auswirkungen das Problem auf den „Probleminhaber“ und seine Umwelt hat. Während der „Probleminhaber“ innerlich stark verunsichert sein kann, muss derjenige, dem es erzählt wird, noch lange nicht verunsichert ein. Das liegt an den unterschiedlichen Wirklichkeitskonstruktionen. Die vergleichen wir gern mit unserer derzeitigen Wirklichkeit. Und wenn wir dann eine relative Übereinstimmung mit Anderen finden, sind wir oft zufrieden. Finden wir keine relative Übereinstimmung, fangen wir häufig eine Diskussion an. Das Problem wird meist in beiden Fällen aufrechterhalten, bis es zu Lösungsansätzen (Möglichkeiten) kommt.
Die Möglichkeitskonstruktion
Möglichkeitskonstruktionen im Zusammenhang mit den Wirklichkeitskonstruktionen beschreiben unterschiedliche Perspektiven, um Probleme zu betrachten. Angenommen wir gehen davon aus, dass es genauso viele Lösungen wie Probleme gibt, dann gibt es also mindestens so viele Möglichkeiten, Probleme zu lösen. Darüber hinaus existieren weitere Lösungsmöglichkeiten, die wir weder kennen noch jemals erfahren werden.
Einfach gefragt: Wann können Sie persönlich ein Problem lösen? Immer dann, wenn Sie über entsprechende eigene Mitteln – also Erfahrungen, Werte, Vorstellungen und Erwartungshaltungen – verfügen. In diesem Fall spricht man von eigenen Möglichkeitskonstruktionen.
Oft ist es jedoch so, dass man keine „passende“ Lösung zu einem Problem findet und von einem Problem überfordert ist. Dann können Problem-orientierte Fragen, sogenannte Verschlimmerungsfragen³, helfen:
- Was müssten Sie tun, um Ihr Problem zu behalten oder zu verewigen oder zu verschlimmern?
Was könnte ich als Berater, Coach oder Therapeut tun, um Sie zu unterstützen?
Und was könnten wir gemeinsam tun, um Sie zu unterstützen? - Wie können Sie sich so richtig unglücklich machen, wenn Sie das wollten?
- Wie könnten die anderen Sie dabei unterstützen? Wie könnten Sie die anderen dazu einladen, es sich ebenfalls schlecht gehen zu lassen?
Diese Fragen machen deutlich, dass der „Probleminhaber“ sich im Kreis dreht und alles dafür tut, um das Problem nicht loszulassen. Gegebenenfalls wird das Problem manifestiert und verschlimmert.
Viele Menschen werden durch solche (Verschlimmerungs-)Fragen irritiert, denn eigentlich wollen sie doch das Problem loswerden. Die Irritation ist eine gewollter Impuls in der Systemischen Beratung und Therapie. Er regt einen Perspektivwechsel an. Die bisher noch nicht verwirklichten Beziehungsmöglichkeiten werden so gedanklich durchgespielt. Dabei ist es wichtig, selbst das vermeintlich Unmögliche in den Möglichkeiten zuzulassen („… es existieren weitere Lösungsmöglichkeiten, die wir weder kennen noch jemals erfahren werden.“), um so spielerisch zu neuen Möglichkeiten der Problemlösung zu gelangen.
Es ist das große Ziel, gedanklich von der Fokussierung auf das Problem wegzukommen und sich zu einer möglichen Lösung hinzuwenden. Für dieses Ziel könnten Sie auch ergänzende Fragen stellen:
- „Was würde schlechter, wenn das Problem einfach weg wäre?“
- Oder: „Was müssten Sie tun, um Ihr Problem zu behalten oder zu verewigen oder zu verschlimmern?“
- „Nehmen wir einmal an, Sie könnten ihr Problem ihrem Partner schenken. Was würde er/sie anders als Sie machen?“
Und nach einer möglichen Antwort: „Wäre das eine Möglichkeit, die Sie sich für die Lösung Ihres Problems vorstellen können?“
Fazit
Probleme zu bekommen ist im menschlichen Miteinander und in Gesellschaften oft nicht schwer. Sie wieder loszuwerden hingegen schon. Das ist das Schwierige beim Tanz um das Problem. Wenn Ihnen Ihren eigenen Wirklichkeitskonstruktionen bewusst werden, Sie sich regelmäßig selbst beobachten und sich fragen, ob es vielleicht doch etwas gibt, was Sie bisher noch nicht bedacht haben, dann wird es Ihnen leichter fallen, Möglichkeiten spielerisch kreativ zu konstruieren. Leider ist uns die native Neugier von Kindern zu oft abhanden gekommen. Dennoch haben wir immens viele Möglichkeiten, unsere Gedanken auf kreative Weise anzuregen und zu lenken. Seien Sie mutig, probieren Sie es einfach mal aus.
Der Tanz um das Problem kann nur beendet werden, wenn einer der Tanzpartner aufhört, nach der Melodie des Problems zu tanzen und sich der Melodie der Lösung hinwendet.
Hinweise:
[1] Weitere Informationen zu Niklas Luhmann finden Sie unter https://de.wikipedia.org/wiki/Niklas_Luhmann
[2] Lehrbuch der Systemischen Therapie und Beratung, Autoren: Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer, 10. Auflage, Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht, Seite 146, Abs. 2. 3
[3] Lehrbuch der Systemischen Therapie und Beratung, Autoren: Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer, 10. Auflage, Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht, Seite 147, Abs. 2
Sehr geehrter Herr Bochum,
der Begriff „Tanzen um etwas“ ruft Assoziationen hervor, welche allerdings nur bedingt zur Problembewältigungsstrategie passen. Die Perspektive ändern ist sicherlich ein sinnvoller Weg, um nicht nur weiter um das Problem zu kreisen. Über etwas sprechen ( am besten mit einem Gleichgesinnten = er hört erst mal zu, ohne direkt seine Lösungsansätze überstülpen zu wollen ) kann an sich schon helfen. Beim Sprechen über etwas muss erst einmal ein stimmiger Kontext konstruiert werden – allein dabei fällt einem oft schon auf, dass das eigene „Bild im Kopf“ vom Problem Lücken aufweist, die man beim alleinigen Brüten darüber mit sich selbst gar nicht wahrgenommen hat. Zum bewussten Perspektivwechsel möchte ich auf Edward de Bono und der Geschichte mit den Hüten verweisen. Oder man denkt an einem Tiefpunkt auch mal nicht über das Problem weiter nach, entspannt den Geist mit einem anderen Thema und lässt das Unterbewusstsein arbeiten. Im Gegensatz zu einem Muskel leistet das Bewusstsein nämlich nicht automatisch mehr, wenn man es anstrengt – das Gegenteil ist oft der Fall. Aber es sieht für andere eben nachvollziehbarer aus, „hart und angestrengt zu grübeln“ anstatt sich mit etwas anderem zu beschäftigen. Ein Bild, welches wiederum gut zum Tanzen passt ist die Vorstellung vom Problemraum – man muss diesen verlassen um zur Lösung zu kommen, wenn diese nicht tatsächlich problemimmanent ist. Sinnbildlich adäquat wäre die Vorstellung, das Parkett größer zu machen, um nicht ständig das gleiche zu tanzen. Gute Lösungen beinhalten Aspekte, welche neu hinzugenannt wurden. Dazu bedarf es aber oft eines externen Anstoßes, weil es der eigene Erfahrungshirizont manchmal einfach nicht hergibt. Das Verknüpfen von Aspekten zur Lösungsfindung setzt eben auch das geistige Bewusstsein um Aspekte Voraus. Da jeder Mensch mehr oder wenig andere Verknüpfungen präsent hat hilft eben auch mal einfach drüber sprechen. Natürlich empfindet sich der eigene Geistesblitz a la Kekulee phantastisch, aber dazu muss der Boden auch bereitet sein. Und dazu gehört Angstfreiheit, welche in den meisten Hackordnungen in menschlichen Gruppen nicht da ist / da sein darf.
Mit freundlichen Grüßen,
Volker Wiesner
Sehr geehrter Herr Wiesner,
der Begriff „Tanz um das Problem“ stammt aus dem Lehrbuch der Systemischen Therapie und Beratung, Autoren: Arist von Schlippe / Jochen Schweitzer, 10. Auflage, Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht, Seite 146, Abs. 2. 3.
Ihre persönlichen Assoziationen kann ich nicht nachvollziehen. Jeder hat seine individuellen.
Was ich in meiner systemischen Ausbildung über diesen vermeintlichen Tanz lernte – es ist eher das Verharren im „Hamsterrad“ des Problems (oder eben das um das Problem herumtanzen) gemeint. Eine Symbolik…
Jemand befasst sich nur mit dem Problem, jedoch nicht mit Lösungsmöglichkeiten.
Mögliche Lösungswege haben Sie aufgezeigt – Zitat: Über etwas sprechen (am besten mit einem Gleichgesinnten = er hört erst mal zu, ohne direkt seine Lösungsansätze überstülpen zu wollen) kann an sich schon helfen…
Sie haben wundervolle Beispiele (z. B. Kreativitätstechniken, wie die Denkhüte von De Bono, Geistesblitze von August Kekulé) für ein mögliches Vorgehen genannt. Eine tolle und ergänzende Anregung! Dafür Danke ich Ihnen sehr!
Welche wirksam sind und welche nicht, kann ohnehin nur der / die Betroffene bewerten und ggf. äußern. Denn er oder sie wird in der Systemischen Denkweise als Expertin/ Experte des eigenes Problem gesehen.
Beim professionellen Coaching geht es niemals um das „Überstülpen“ von Lösungsansätzen. Jeder ausgebildeter (systemischer) Coach weiß, dass dies ohnehin nie wirksam ist. Es geht eher darum, Impulse zu geben, damit etwas in Bewegung kommt und sich neue Möglichkeitsräume entwickeln können.
Mit freundlichen Grüßen
Knut Bochum