Digitalisierung zwischen Begeisterung und Frust
Wahrscheinlich kennen Sie das auch: Morgen ist der lang geplante Roll-Out der neuen Software und der Server fällt aus, während Sie und Ihr Team die letzten Aktionen durchführen. Backup? Klar, von gestern Abend, aber das meiste von dem, was Sie heute getan haben, ist hin. Oder denken Sie an Probleme mit Druckern – meine fallen gefühlt immer genau dann aus, wenn ich keine Zeit für Reparaturen oder Ersatzlösungen habe. Freunde und Bekannte erzählen von ähnlichen Drucker-Phänomenen und nennen es Murphy‘s Law.
Das systemische Eigenleben von Technik
“Passiert mir nicht” werden die sagen, die dank der Unterstützung durch ein großes, professionelles Rechenzentrum mit Spiegelservern, Netzwerkplatten und Hochleistungsdruckern arbeiten. Na, dann kennen Sie vielleicht das: Während Sie und Ihr Team die letzten Handgriffe machen, kommt es zu einem Softwarefehler, der die Datenbank samt Spiegel zerstört. Klar, Sie haben natürlich ein Online-Backup, aber seit wann ist der Auslöser des Fehlers bereits im System? Und überhaupt, die Zeit reicht eh nicht mehr bis morgen früh…. “Nun,” könnten Sie mir jetzt sicherlich entgegnen, “unsere Technologie wird immer besser und ausfallsicherer, und solche Ausfälle werden damit im Laufe der nächsten Jahre ausgemerzt”. Stimmt, daran glaube ich auch – Bankautomaten zeigen mir, mit welch hoher Zuverlässigkeit wir Technik realisieren können – und gleichzeitig durchdringt die Technik doch immer mehr unseren Alltag, wird dabei immer “komplexer”. Damit wird sie – egal wie gut wir technischen Fortschritt voranbringen – aus systemischer Sicht immer mehr zu einem eigenständigen System – und Systeme verhalten sich eben nicht deterministisch. Mit anderen Worten: Das Verhalten technischer Systeme wird zu einem wichtigen Faktor, dass etwas passiert, was wir nicht voraussagen konnten (Ungewissheit durch Technik).
“Nun,” höre ich wieder viele sagen, “das ist doch Quatsch. Wir müssen einfach nur mehr wissen, dann beherrschen wir das alles schon” und “Systemisches Denken ist ja schön und gut, aber es gilt doch wohl vor allem für Menschen; solche systemischen Grundannahmen in Zusammenhang mit Technik gehen wohl definitiv zu weit, passen nicht in den Kontext, sind fast schon esoterisch. Wir müssen einfach nur genug Wissen bereitstellen, anständig planen, angemessen kontrollieren, und schon wird Technik beherrschbar.” Aber wird sie das wirklich? Das Münchner Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF) unter Leitung von Fritz Böhle forscht bereits seit vielen Jahrzehnten auf dem Gebiet der Nicht-Vorhersehbarkeit und dem Umgang mit solchen Situationen und kommt inzwischen empirisch zu dem Schluss, dass Technik ein wesentlicher Faktor für Ungewissheit ist, der in nichts dem menschlichen nachsteht[1].
Risiken und Nebenwirkungen der Digitalisierung
Das ist in Zeiten des digitalen Wandels keine einfache Nachricht, denn wie viele andere habe auch ich als Diplom-Informatikerin jahrelang gehofft, dass Technik unser Leben vereinfacht und auch besser planbar macht. Tut sie sicherlich auch in bestimmten Aspekten, und gleichzeitig müssen wir konstatieren, dass sie auch Unruhe und Ungewissheit schafft. Das ist bei der Digitalisierung nicht wesentlich anders als bei so vielen anderen Innovationen. Eine gewisse Zeit lang gibt es eine klare Verbesserung und dann bemerken wir “unerwartete Nebenwirkungen”. Wir entdecken Antibiotika und heilen damit viele Menschen und plötzlich gibt es resistente Keime, Menschen sterben daran. Wir entdecken die Atomkraft, versorgen uns damit mit Energie, aber die atomaren Reste verseuchen trotz großen Bemühens das Erdreich. Es ist immer wieder dasselbe Spiel, und dessen Spielregeln gelten eben auch für die Digitalisierung. Wir durchdringen die gesamte Gesellschaft mit Technologie, werden aber irgendwann verblüfft feststellen, dass unerwartete Nebeneffekte auftreten. Wen wundert da, dass viele Menschen der Digitalisierung ablehnend gegenüberstehen?
Der nahe liegende Ausweg ist, dass wir uns im Vorfeld besser mit den Risiken und entsprechenden Gegenmaßnahmen beschäftigen. Gutes Management und eben vor allem auch Projektmanagement tut das seit langem. Gerade das Projektmanagement beschäftigt sich ja überwiegend mit der Einführung von Neuerungen. Wenn wir dann auch noch agil vorgehen, können wir mögliche Fehlentwicklungen sogar frühzeitig erkennen, neue Chancen ebenso. Und damit vermeiden wir vor allem, dass wir fahrlässig agieren. Aber die “unknown unknowns” bleiben und sind nicht plan- und kontrollierbar. Wirklich beherrschen werden wir die Technik in ihrer Gesamtheit also nicht, sie wird ihr Eigenleben entwickeln. Dieses Gefühl beschleicht uns seit langem. Schon im Zauberlehrling können wir lesen “Die ich rief, die Geister…”[2] und immer noch hoffen wir heimlich darauf, dass wir sie, die Geister, eben doch kontrollieren können, wenn wir nur mehr vom selben tun, nämlich Wissen anhäufen, besser planen, konsequenter kontrollieren. Klar und deutlich auszusprechen, dass da wohl bei all unserem Intellekt immer eine Grenze bleiben wird, jenseits derer wir mit Rationalität nicht mehr weiterkommen, trauen wir uns nicht (in der GPM-Expertise “Umgang mit Ungewissheit in Projekten” wird für dieses rationale Vorgehen der Begriff “Objektivierendes Handeln”[1] benutzt. Nichts anderes sind Tätigkeiten wie Wissenserwerb, Planung und Kontrolle).
Erhalt der Handlungsfähigkeit
Die Gründe für diese Zurückhaltung sind vermutlich zahlreich. Ein wesentlicher Aspekt ist, dass die westliche Gesellschaft seit Hunderten von Jahren größten Wert auf Rationalität legt und alles nicht rational Begründbare abwertet. Etwas rational zu verstehen, gibt uns auch gefühlte Sicherheit. Gastautor Ralf Schmitt beschrieb hier vor kurzem im Blog “Keine Panik, Kaninchen” unser Ur-Bedürfnis nach Sicherheit und die mit dem raschen Wandel verbundenen Ängste. Das Verstehen kontrolliert die Angst. Aber wie schrieb Ralf Schmitt in seinem Beitrag so schön: “Sicherheit ist Illusion”. Ich möchte diese Aussage differenzieren in “Vorhersehbarkeit und Beherrschbarkeit (von Technik) ist eine Illusion” – VUKA lässt grüßen.
Vieles von dem, was Ralf Schmitt zu Ängsten und Veränderung sagt, teile ich. Und ich finde es naheliegend, in Zeiten, die aufgrund der zunehmenden Digitalisierung scheinbar sehr rational geprägt sind, eben auch sehr rational mit Ängsten und Scheinsicherheit umzugehen. Rationalität erzeugt Akzeptanz. Wir (an)erkennen, dass wir uns etwas vormachen, dass wir uns eine Scheinsicherheit “vorgaukeln”, und das ist die Voraussetzung, uns damit zu beschäftigen und etwas zu verändern. Und doch ist Rationalität und Bewusstheit für das “Handeln in Ungewissheit” nur ein Aspekt und das Thema damit gesamtheitlich anzugehen nur ein – systemisch gesehen, “mehr vom selben” (nämlich ein rationaler Umgang mit dieser Realität). Das reicht nicht aus. Es ist wie mit den guten Vorsätzen. Wenn wir sie rational beschließen, ist das gut und notwendig (im Sinne der Akzeptanz), aber es reicht noch lange nicht für die nachhaltige Umsetzung.
Um in VUKA-Zeiten handlungsfähig zu bleiben, darf Angst nicht zu Panik werden, Stabilität nicht zu Starrheit werden. In beidem ist unsere Ratio gut, wenn wir überfordert werden: Wir grübeln und denken, wir werden gedanklich enger, unterdrückte Ängste werden laut. Dann erstarrt das Kaninchen in uns, oder wir schlagen blindlings um uns – so mancher Computer kann davon ein Lied singen, wenn er mal wieder das nicht tut, was er soll.
Kompetenzen für den digitalen Wandel
Stellt sich die Frage, was wir also über ein fundamentales Technikverständnis und kognitive Reflektion unserer Reaktion auf Unsicherheit hinaus brauchen, um die digitale Transformation in all ihrer Wucht und Veränderungsgeschwindigkeit gut zu überstehen? Etwas, das uns auch dann erhalten bleibt, wenn uns die Digitalisierung mit all ihren Konsequenzen für Arbeitsplätze und Privatleben scheinbar “überrollt”.
Es braucht eine Haltung, die eine neue Form der Sicherheit mit kreativer Freude verbindet. Denn spielerische Freude an Neuem bzw. Neugier auf Neues kann nur entstehen, wenn wir uns nicht in unseren Fundamenten bedroht sehen. Werden die äußeren Umstände scheinbar ungewisser, weil die gefühlte Veränderung zunimmt, reicht es nicht aus, uns kognitiv vor Augen zu führen, dass wir ja momentan gar nicht wirklich gefährdet sind, weil wir in einer der besten Zeiten und Gesellschaften leben, die es je gab. Es braucht vielmehr eine Sicherheit, die nicht auf den äußeren Umständen basiert, sondern aus uns selbst heraus kommt, eine Art “Selbstbewusstsein” in wahrsten Sinne des Wortes. Diese Sicherheit ist die Basis für einen situativ angemessenen Umgang mit Neuem. All das werden wir nur sehr eingeschränkt in unserem Verstand finden. Das eigentliche Potential hierfür liegt in unserem Körper. Sprachlich heißt es: Wir halten etwas (aus), wir stehen etwas durch, wir gehen freudig darauf zu etc. Und vielleicht lässt sich die Aussage von Ralf Schmitt wie folgt lesen: “Äußere Sicherheit (Gewissheit) ist eine Illusion, um sie zu bestehen, braucht es innere Sicherheit (Stabilität in Flexibilität)”.
Mehr zu den Möglichkeiten von Handlungsfähigkeit jenseits der Rationalität können Sie u.a. in meinem Blogbeitrag “Es war einmal ein Plan” erfahren.
[1] Expertise “Umgang mit Ungewissheit in Projekten” der GPM, November 2016, Online-Veröffentlichung unter: https://www.gpm-ipma.de/know_how/studienergebnisse/umgang_mit_ungewissheit_in_projekten.html
[2] Johann Wolfgang von Goethe: Der Zauberlehrling.
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