Ist Stress ein Geistesgift?
Über Zeitdruck und Leistungsdruck in Projekten und die dazu passenden Gegengifte.
Gestern hörte ich in einem Podcast ein Interview mit Christina Kessler. Christina Kessler ist Ethnologin und Kulturanthropologin. Sie ist weltweit sehr viel unterwegs, als Ethnologin hat sie zahlreiche Cross-Cultural Studies durchgeführt. Mit dem Ziel herauszufinden, ob es einen gemeinsamen Kern in den unterschiedlichen Weisheitstraditionen gibt. Das führte sie auch in Kontakt zu indianischen Kulturen. In dem Interview erzählt sie unter anderem von einem Indianerstamm mit dem sie gelebt hat. Für diesen Stamm ist Stress ein Geistesgift. Ein Gift, das die Atmosphäre und das Zusammenleben vergiftet und das man deshalb unter allen Umständen vermeiden sollte.
Eine hochinteressante Sichtweise, wie ich finde.
Ist Stress ein Geistesgift?
Ich persönlich finde das gar nicht so abwegig. Ganz im Gegenteil glaube ich, dass Stress oder vielmehr das daraus resultierende automatische, unbewusste Verhalten sehr viele negative Auswirkungen hat. Mal ganz abgesehen von den gesundheitlichen Risiken. Es ist mittlerweile bekannt, dass chronischer Stress unser Immunsystem schwächt und eine Reihe von gesundheitlichen Problemen hervorruft. Ich glaube, dass vielen diese Zusammenhänge und ihre Bedeutung noch gar nicht richtig bewusst sind.
Ich möchte in meinem Artikel allerdings nicht auf die körperlichen Auswirkungen eingehen, als vielmehr die spezielle Wirkung von Stress als Geistesgift in Bezug auf unsere Emotionen, unsere Gedanken und unser Verhalten näher beleuchten.
Denn Stress ist gerade auch im Projektmanagement ein großes Thema. So zeigt eine Studie der Gesellschaft für Projektmanagement (GPM)¹ aus dem Jahr 2013, dass 35 % der Befragten stark burnout-gefährdet sind. An der Online-Befragung haben sich immerhin 965 Projektmanager beteiligt. Meine Kolleginnen aus dem Arbeitskreis und ich haben die Studienergebnisse dieses Jahr in verschiedenen GPM-Regionen vorgestellt und mit den Teilnehmern über mögliche Gegenmaßnahmen diskutiert.
Stress wird oft als Druck wahrgenommen
In all diesen Diskussionen, meinen Trainings und Coachings und auch in meinem eigenen Alltag mache ich die Erfahrung, dass Stress oft als Druck wahrgenommen wird. Ein unangenehmes Gefühl, das man am liebsten loswerden möchte. Dieser Druck wird dabei zunächst durch äußere Anreize erzeugt: Neue Technologien erfordern andere Arbeits- und Verhaltensweisen. Viele Unterbrechungen durch Anrufe, Emails oder Ad-hoc Anweisungen. Zu enge Terminvorgaben oder Anforderungen, die so eigentlich nicht erfüllbar sind.
Aber diesen Druck erzeugen wir auch unbewusst durch bestimmte innere Einstellungen in uns selbst: Wir wollen möglichst schnell ein bestimmtes Ergebnis erzielen. Wir wollen möglichst gut, vielleicht sogar perfekt sein. Haben hohe Erwartungen an uns selbst und andere. Der Nährboden für das Geistesgift, das in einer solchen Haltung steckt, sind die unangenehmen Gefühle wie Angst, Wut, Ärger oder Hilflosigkeit und die damit verbundenen oft automatisch einsetzenden Handlungen. Solche unangenehmen Gefühle möchten wir am liebsten ganz vermeiden oder schnell wegdrücken. Aber weil uns das auf diese Weise nicht gelingt, begeben wir uns oft unbewusst in immer mehr hektische Aktivität und Betriebsamkeit. Damit lösen wir das Problem aber nicht, im Gegenteil, wir schaffen so eine stressige, vergiftete Atmosphäre, die immer weitere Kreise zieht.
Termindruck
Termindruck entsteht immer dann, wenn wir entweder glauben, wir seien nicht schnell genug. Oder aber wir hätten nicht genug Zeit, eine anstehende Aufgabe zu erledigen.
Termindruck kenne ich aus meinen eigenen Projekten sehr gut. Ich habe einige sehr große Veränderungsprojekte geleitet und auch zahlreiche IT-Einführungen begleitet. In der Regel handelt es sich dabei um neue Prozesse, Technologien oder Organisationsstrukturen, die man in eine bereits bestehende Organisation implementiert. Dabei wird sehr oft außer Acht gelassen, dass die betroffenen Menschen sich mit diesen neuen, geänderten Anforderungen erstmal vertraut machen müssen. Außerdem lösen Veränderungen der bestehenden Organisation bei den Mitarbeitern erst mal Unsicherheit aus.
Die Zeitpläne sind oft so eng gestrickt, dass für gemeinsame Gespräche, ausprobieren und reflektieren überhaupt keine Zeit da ist. Und ich weiß, wie schwierig es ist, solche Projekte zu planen. Weil unvorhergesehene Dinge schnell den gesamten Tagesplan über den Haufen werfen können. Und das wiederum natürlich Auswirkungen auf das Projektende haben kann. Gerade bei IT-Projekten passieren eine Menge oft unvorhersehbarer Probleme. Agile Methoden wie Scrum versuchen hier Abhilfe zu schaffen. In dem sie das Projekt/den Ablauf in kleine, überschaubare Schritte unterteilen.
Aber seien Sie mal ganz ehrlich, wie oft machen wir die Situation durch unser eigenes Verhalten noch schlimmer? In dem wir einfach weitermachen, der Termin drängt schließlich und wir haben keine Zeit mal anzuhalten und über andere Alternativen nachzudenken.

Stress durch Termindruck – kennen Sie das auch?
An dieser Stelle möchte ich gerne eine eigene Erfahrung mit Ihnen teilen. In einem meiner letzten Projekte hatte ich einen Auftrag übernommen, ein nicht gut funktionierendes Projekt wieder in ordentliche Bahnen zu lenken.
Nachdem ich mit vielen Beteiligten gesprochen hatte, war mir klar, dass diese verschiedenen Experten – noch dazu aus unterschiedlichen Firmen – alle ein anderes Bild im Kopf hatten. Und dass wir uns die Zeit nehmen mussten, das zu klären. Was glauben Sie, was passierte als ich ein entsprechendes, halbtägiges Abstimmungsmeeting ansetzte? Alle waren empört, weil sie schließlich schon wüssten, was zu tun sei. Mir schlug zunächst totale Ablehnung entgegen. Man hielt das für reine Zeitverschwendung. Nach dem Meeting lief die Zusammenarbeit richtig gut, ganz einfach, weil das Team sich kennengelernt und eine gemeinsame Lösung definiert hatte. Kennen Sie solche Situationen auch?
Genau das ist die „giftige Essenz“ des Zeitdrucks. Wir spüren zwar dass das Projekt aus dem Ruder laufen könnte. Wir wissen um die Konflikte, Widerstände und die dahinter liegenden negativen Gefühle wie Wut, Ärger oder Frustration. Wir reagieren aber nicht darauf, weil wir Angst haben. Angst vor Ablehnung, Angst vor negativen Reaktionen, wenn wir Flagge zeigen. Angst davor, alleine dazustehen, wenn alle anderen anderer Meinung sind. Angst, das gesetzte Ziel nicht mehr zu schaffen. Diese Angst ist uns oft gar nicht bewusst. Und glauben Sie mir, auch für mich war die erste halbe Stunde des besagten Abtstimmungsmeetings nicht angenehm. Aber ich war mir bewusst, dass dies die einzig passende Lösung für das Problem war. Und hatte glücklicherweise in dieser Situation den Mut, das dann auch so durchzuziehen.
Gegengift: Anhalten und die negative Ladung reduzieren
Deshalb lautet meine Lösung oder besser gesagt das Gegengift für Termindruck in solchen Situationen einfach mal inne zu halten. Den nicht enden wollenden Fluss aus Aktivitäten und Terminen einfach mal anhalten, eine kurze Auszeit zu nehmen. Sich die unangenehmen Gefühle wie Angst, Wut oder Ärger bewusst zu machen.
Im zweiten Schritt können Sie dann die mit den unangenehmen Gefühlen verbundene negative Ladung reduzieren. Das können sie durch eine ganz einfache Atemübung, die sogenannte Herzatmung – schaffen. Sie besteht aus zwei einfachen Schritten: Im Schritt 1 lenken Sie den Fokus von den unproduktiven Gedankenschleifen in ihrem Kopf hin zu ihrem Herzen. Sie richten ihre Aufmerksamkeit auf die Region um ihr Herz. Im zweiten Schritt stellen sich vor, wie Sie langsam und gleichmäßig durch ihr Herz ein- und ausatmen. Lassen Sie ihren Atem dabei ruhig und gleichmäßig fließen und forcieren Sie nichts. Atmen Sie einfach etwas langsamer als normal. Wenn Sie mögen bzw. es Ihnen hilft können Sie sowohl beim Ein- als auch beim Ausatmen jeweils bis fünf zählen.
Die Herzatmung hat nachweisbare, sofortige körperliche Auswirkungen, weil über die tiefe, gleichmäßige Atmung ihr autonomes Nervensystem wieder in Balance kommt. Und Sie so zur Ruhe kommen können. Denn nur in einem ruhigen, gelassenen Zustand können sie eine passende Lösung finden.
Leistungsdruck
Ein riesengroßes Thema in Projekten ist Leistungsdruck. Hätten Sie gedacht, dass fast 80 % der befragten Projektmanager aus der Burnout-Studie sich selbst als perfektionistisch bezeichnen?
Hohe Anforderungen an die eigene Leistung zu haben ist natürlich grundsätzlich nichts Schlechtes. Wenn Sie aber anfangen, sich selbst unter Druck zu setzen, weil Sie glauben nicht gut genug zu sein oder die Anforderungen von außen nicht erfüllen zu können. Dann setzten Sie den Startschuss für das Einsetzen eines Teufelskreislaufs. Das ist der Nährboden für das Geistesgift aus unproduktiven Gedanken, Zweifeln, Ängsten und Grübeleien. Was machen Sie, wenn Sie glauben, dass Sie etwas nicht schaffen können? Sich einfach noch mehr anstrengen, um die gesteckten Ziele zu erreichen?
Genau das führt dann immer weiter in die Sackgasse. Denn meist führt die vermehrte Anstrengung zu weiterer Erschöpfung. Und immer schlechteren Ergebnissen. Genau das zeigen auch die Ergebnisse der Burnout-Studie: Bei 35 % der Befragten liegt der Grad der emotionalen Erschöpfung im kritischen Bereich. Emotionale Erschöpfung im kritischen Bereich heißt salopp ausgedrückt: Ich fühle mich ausgelaugt, meine Batterien sind total leer und ich habe einfach überhaupt keine Energie mehr. Irgendwann kann der Körper diesen Druck und die Erschöpfung nicht mehr kompensieren und Sie haben Probleme einzuschlafen oder morgens überhaupt noch aus dem Bett zu kommen.
Der innere Antreiber, die gewünschte Leistung zu erbringen, ist aber unvermindert aktiv. Auch hier ist der Nährboden für das „Geistesgift“ wieder in den mit der Situation verbundenen unangenehmen Gedanken und Gefühlen wie Angst, Wut oder Hilflosigkeit zu finden. Oder Gedanken wie: Das schaffe ich doch nie. Diese Gefühle gehen in dem Aktionismus einfach unter bzw. werden damit zugedeckt.
Was kann ich selbst tun, um das Gift zu entschärfen?
Gegengift: Zur Besinnung kommen und die positiven Aspekte einer Situation wertschätzen
Der erste Schritt ist eigentlich immer derselbe: Wir müssen anhalten und uns die bestehende Situation und unseren Zustand – körperlich, emotional und mental – bewusst machen. Die Leistungsfalle hat sehr viel mit Mangeldenken zu tun: Wir glauben, nicht gut genug zu sein. Wir glauben, dass wir die an uns herangetragenen Anforderungen nicht erfüllen zu können.
Hier macht es Sinn, einfach mal die Perspektive zu wechseln und auf die positive Seite zu schauen: Was haben Sie schon geschafft? Was ist Ihnen richtig gut gelungen? Was haben Sie tatsächlich schon erreicht? In einem meiner letzten Coaching-Gespräche erzählte mir eine Projektmanagerin, dass sie immer nur auf die „großen Schritte“ schaut. Und sich gar nicht bewusst macht, wie viele kleine Schritte zum Ziel sie schon gemacht hat. Solche kleinen Schritte wären doch einfach nicht der Rede wert, meinte sie. Eine solche innere Einstellung provoziert automatisch Mangeldenken, es fehlt einfach immer noch etwas, um richtig gut zu sein.
Machen Sie sich also die bereits geschafften Resultate bewusst und schreiben Sie alles auf, was Ihnen dazu einfällt. Ergebnisse, gewonnene Erkenntnisse, Einsichten, positive Entwicklungen bei sich selbst oder in der Zusammenarbeit mit anderen. Wenn die Liste fertig ist, dann machen Sie sich klar, was Sie alles schon geschafft haben. Wertschätzen Sie sich dafür und nehmen Sie sich die Zeit, dieses Gefühl in ihrem ganzen Körper – vor allem ihrem Herzen – zu spüren. Denn leider ist das ein Problem, wir sind zu sehr auf die negativen Dinge fixiert. Positive Erlebnisse und die damit verbundenen Gefühle müssen laut dem Neuropsychologen Rick Hanson mindestens 30 Sekunden, möglichst intensiv gefühlt werden. Damit sie sich in ihrem emotionalen Gedächtnis abspeichern können. Sonst gehen sie einfach unter.
Wenn Sie also anfällig für Leistungsdruck sind, dann praktizieren Sie eine solche „Wertschätzungsübung“ möglichst regelmäßig für 3 bis 5 Minuten. Um vom Mangeldenken zum Wertschätzungsdenken zu kommen. Und so dem Geistesgift Stress wirksam vorzubeugen.
Hinweise:
Die beschriebene kurze Atemübung ist ein Teil der schöpferischen Pause. Wer von Ihnen die positive Wirkung einer solchen Übung angereichert mit angenehmen Gefühlen – einmal ausprobieren möchte, kann sich hier die kostenfreie Audio-Anleitung herunterladen. http://gelassenheitsformel.com/lp-schoepferische-pause/
Wer von Ihnen mehr erfahren möchte, wie man sich im hektischen Arbeitsalltag besser abgrenzen kann, dem empfehle ich unser Gratis Webinar am 01.12.2015: „Sich abgrenzen im digitalen Zeitalter – wie Sie in 6 Schritten Innere Gelassenheit lernen und sich auf das Wesentliche fokussieren“. https://heart-beats.leadpages.co/webinar-gelassen-dec2015/
[1] Studie der GPM: http://www.gpm-ipma.de/fileadmin/user_upload/Know-How/studien/141015_Burnout-Studie_Web_Final.pdf
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