Konflikterkennung vor Konfliktlösung
Es ist der 14. April 1912 gegen 23.40 Uhr. Die Titanic fährt auf ihrer Jungfernfahrt im Nordatlantik. Als modernstes Schiff der Welt gilt die Titanic als unsinkbar. Doch dann passiert die Katastrophe. Nachdem ein Eisberg zu spät gesichtet wird, versucht die Crew eine Kollision zu vermeiden. Hektische Kommandos werden gerufen und ein Ausweichmanöver mit dem 269 Meter langen Meeresriesen versucht. Doch der sichtbare Teil des Eisbergs ist nicht das Problem, sondern die große Masse des Eisbergs unter der Wasseroberfläche. Das Ende der Jungfernfahrt ist bekannt: der Rumpf der Titanic wird aufgerissen und das Schiff versinkt mit sehr vielen Menschen an Bord. Auch heute noch ist dies eine der größten Katastrophen der internationalen Schifffahrt.
Was hat dieses tragische Ereignis nun mit heutigen Konflikten im Berufsalltag, im menschlichen Miteinander zu tun?
Bewusst und unbewusst
Sigmund Freud, österreichischer Neurologe und weltweit als Begründer der Psychoanalyse bekannt, beobachtete seine Patienten und erkannte, dass menschliches Handeln in täglichen Situationen nur zu einem kleinen Anteil bewusst bestimmt wird. Entgegen der seinerzeit verbreiteten Meinung vertrat er die Auffassung, dass im Unbewussten liegenden Ängste, verdrängte Konflikte, traumatischen Erlebnisse, Triebe und Instinkte Einfluss auf das menschliche Verhalten haben. Mit seinem Eisbergmodell erläuterte er die Tiefen von Konflikten, die in der Regel nicht auf sachlicher, sondern emotionaler Ebene entstehen und sich verhärten, wenn sie nicht erkannt und gelöst werden. Im schlimmsten Falle werden Konflikte unlösbar, so dass es beispielsweise in der Berufswelt oft zu Trennung von wichtigen und wertvollen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kommt.
Was ist der Konflikt?
Verfügt Ihr Unternehmen über Firmenparkplätze? Dann kennen Sie vielleicht auch die Situation, dass nicht jeder Mitarbeiter einen eigenen Parkplatz besitzt. Nun wird wieder ein Parkplatz frei und Sie dürfen den Parkplatz an einen Mitarbeiter vergeben. Zwei Mitarbeiter kommen in Frage. Als kooperative Führungskraft überlassen Sie es den beiden Kollegen, untereinander zu entscheiden, wer den Parkplatz nutzen darf. Die Beiden müssen sich lediglich einigen und Ihnen die Entscheidung mitteilen. Nach einiger Zeit bemerken Sie aber, dass die Stimmung zwischen den Beiden angespannt und schwieriger wird. Okay, denken Sie sich, sprechen Sie mit jedem einzeln und finden dann gemeinsam eine Lösung. Doch beide Mitarbeiter schimpfen über den jeweils anderen und erwarten von Ihnen eine Entscheidung. Gut, dass sind Sie als Führungskraft gewohnt. Sie wägen Sie nach bestem Wissen und Gewissen ab und treffen eine Entscheidung. Wunderbar – der Konflikt ist gelöst, der Parkplatz vergeben, alles gut.
Stimmt das?
In der Folge stellen Sie fest, dass die beiden Mitarbeiter weiterhin nur schwierig miteinander umgehen können. Und selbst Ihnen gegenüber hat sich das Verhalten des „Unterlegenen“ verändert. Der Mitarbeiter versucht sogar jeden Kontakt mit Ihnen zu vermeiden. Nun, denken wir noch mal an den Eisberg. Ca. 20% des Eisbergs liegen über der Wasseroberfläche und ca. 80% darunter. Auf der sachlichen Ebene ist eine Lösung entstanden. Doch war der Parkplatz nur ein Symptomträger für eine vielleicht schon länger währende Geschichte im Unternehmen. Der übergangene Mitarbeiter ist eher ein ruhiger Mensch. Er spielt sich nicht in den Vordergrund, ist ein stiller und dabei sehr gewissenhafter Mitarbeiter. Wenn er Probleme hat, dann kann er diese nur ganz schwer ansprechen sowohl gegenüber Kollegen als auch gegenüber einer Führungskraft. In der Vergangenheit ist er in seiner Wahrnehmung bei Beförderungen übergangen worden. Kollegen schätzen seine Hilfsbereitschaft und nutzen diese gerne mal aus, in dem sie ihm Aufgaben zuschieben. Seine Ideen werden gerne von anderen genutzt, um sich selbst zu profilieren. Dazu gehört auch der Kollege, der durch Ihre Entscheidung den Parkplatz erhalten hat. Er spielt sich gerne in den Vordergrund. Und ja, mit einigen Ihrer Entscheidung, die der parkplatzlose Mitarbeiter als Fehlentscheidung zu seinen Lasten wahrgenommen hat, haben Sie ihn mehrfach sehr gekränkt.
Was glauben Sie, wie sich der Kollege nach der Parkplatzentscheidung nun fühlt? Und nun schauen Sie noch mal auf die Frage: „was war bzw. ist hier der Konflikt und wie wurde er gelöst?“ Der Konflikt liegt viel tiefer und war bisher einfach nicht sichtbar.
Der Eisberg und seine Konflikte unter der Wasseroberfläche
Der richtige Umgang mit einem Konflikt
Was bedeutet die Erkenntnis nun für kommende Konflikte im Team oder grundsätzlich mit Menschen in unserem Leben. Denn glauben Sie, im Privatleben ist es anders? Wann immer Konflikte auftauchen, ist es sinnvoll, sich Zeit zu nehmen, um den gerade auftretenden Konflikt zu betrachten. Machen Sie dann das Feld oder den Blick größer. Was ist die sachliche Komponente dieses Konflikts (Parkplatz bzw. der Mangel daran)? Was ist die emotionale Komponente? Ich will meinen Willen durchsetzen, ich habe es verdient, ich werde immer benachteiligt, der Chef mag mich nicht, ich werde nie gehört, ich habe Macht über andere, etc. Es gibt viele Emotionen, die größtenteils unerkannt bleiben, wenn wir uns damit nicht beschäftigen. Es ist wichtig zu schauen, wer am Konflikt beteiligt ist. Und es sind nicht immer nur die Konflikte, die wir offen sehen, wie hier im Beispiel die beiden Akteure. Oft sind im Hintergrund weitere Personen daran beteiligt wie Kollegen, Freunde oder Partner. Auch ein System wie ein Team oder ein ganzes Unternehmen kann aufgrund der Struktur und der Rahmenbedingungen seinen Teil zu einem Konflikt beitragen.
Wie erkennen Sie nun die Hintergründe eines Konfliktes? Häufig ist es sehr hilfreich intensive Gespräche mit den beteiligten Personen (alleine oder auch zusammen) zu führen. Oft sind auch mehrere Gespräche dazu notwendig. Hier ist es wichtig über die richtigen Fragen die Personen ins Reden zu bringen, die Sache und die Emotionen zu hinterfragen. Besonders die verdeckten Emotionen sind wichtig. Und vergessen Sie dabei nicht, wenn Sie als Führungskraft diesen Konflikt begleiten, Ihre eigene Position darin zu hinterfragen und auch Ihren Emotionen auf die Spur zu kommen. Vielleicht ist es gut, dabei eine dritte neutrale Person als „Detektiv“ einzusetzen. Diesen Teil zu betrachten kann durchaus unangenehm werden und eventuell blenden Sie ihn aus. Doch damit ist einer wirklichen Klärung des Konflikts die Grenze schon gesetzt.
Der Sinn für das Unternehmen
Was ist der Sinn einer solch umfassenden Betrachtung für ein Unternehmen? Wo liegt der konkrete Nutzen? Nun, wir lernen mehr miteinander zu Reden. Wir lernen mehr über unsere Emotionen und die bewusst oder unbewussten Verhaltensweisen daraus. Wir bauen eine neue Verhaltens- und Vertrauenskultur miteinander auf. Wir erkennen viel eher anstehende Konflikte, denn der Blick für mögliche Auslöser wird geschärft. Damit können sie sich nicht so verfestigen. Welche Wirkungen haben Konflikte für ein Unternehmen? Diese zeigen sich in Mobbing, erhöhtem Krankenstand, steigenden Fehlerquoten oder anstehenden Kündigungen – gerne auch mit Rechtsstreitigkeiten in der Folge. Auch über die Unternehmensgrenzen hinaus kann es Auswirkungen geben: wird die Stimmung in einer Firma schlechter und ein Flächenbrand entsteht, bekommen Kunden dies häufig mit und beginnen sich nach neuen Partnern umzusehen. Die wirtschaftlichen Folgen sind oft erheblich und das auch als Folge unbeachteter Konflikte.
Und im privaten Bereich? Nun, da gibt es natürlich dieselben Effekte.
Fazit
Es lohnt sich immer, wenn Sie vor der Konfliktlösung den Hintergrund des Konfliktes erkunden. Schauen Sie auf den Eisberg unter Wasser. Dieser soll nicht zum Untergang führen. Sprechen Sie vor einer Entscheidung intensiv mit den Beteiligten. Versuchen Sie die Motive der Konfliktparteien im Streitfall zu ergründen. Hören Sie genau auf Aussagen, die getroffen werden. Der „stille“ Mitarbeiter sagt Ihnen gegenüber vielleicht: “Die von Ihnen gerade erläuterte Entscheidung ist eigentlich nachvollziehbar.” Achtung: Haben Sie das Wort “eigentlich” gelesen und innerlich gehört? Mit diesem Ausdruck sagt Ihnen der Mitarbeiter, dass er Ihre Entscheidung nicht akzeptiert und die Situation verschärft sich. Diese verräterischen Ausdrücke – und von Ihnen gibt es einige mehr wie “im Prinzip”, “soweit bin ich damit einverstanden” oder “weitestgehend kann ich dem zustimmen” – geben wichtige Hinweise auf verborgene Elemente. Fragen Sie nach, wenn Sie einen solchen Ausdruck wahrnehmen, denn eine solche Äußerung ist emotional und kommt aus dem Unterbewusstsein.
Im Beispiel mit dem Parkplatz könnten Sie fragen: “Wie würde eine Lösung aussehen, die noch mehr Ihren Vorstellungen entspricht?” Damit signalisieren Sie, dass Sie die Zweifel des Gegenüber gehört haben und ihn verstehen möchten. Sie gehen mit den Beteiligten in die Tiefe, quasi unter Wasser und schauen sich den Eisberg dort an. Somit stellen Sie die Konflikterkennung vor die Konfliktlösung. Sie suchen also nach den Ursachen des Konflikts, in dem Sie auf die wahren Hintergründe und die tatsächlich beteiligten Personen achten. Die Lösung finden Sie am besten gemeinsam mit den Konfliktparteien. Und wenn Sie als Führungskraft doch selbst entscheiden müssen, dann kann Ihr neues Verständnis für die Hintergründe zu einer gänzlich anderen Entscheidung führen. Trauen Sie sich die Menschen zu verstehen, dann werden Sie auch bei Ihrer Entscheidung, die Sie offen kommunizieren sollten, besser verstanden.
Hinweise
Weitere Informationen zu Volker Helweg finden Sie unter www.helweg-entwickelt.de.
Hallo,
wäre fein, wenn aus dem Siegmund Freud ein SIGMUND Freud werden könnte.
Liebe Grüße von der Sigmund Freud Universität in Wien
Hallo Frau Madlé,
danke schön. Gerne würde ich ja sagen, dass wir den Fehler absichtlich eingebaut hatten … ;-)
Sonnige Grüße
Michael Schenkel