Quo vadis HERMES, quo vadis V-Modell XT?
2013 wird das schweizerische Informatiksteuerungsorgan des Bundes (ISB) HERMES 5 veröffentlichen. Was ändert sich mit HERMES 5 im Vergleich zur bestehenden HERMES Projektführungsmethode? Wie unterscheiden sich HERMES 5 und das aktuelle V-Modell XT? Und wie geht es mittelfristig mit dem schweizerischen und dem deutschen Standard weiter?
Die lange Geschichte von HERMES und V-Modell in kurzen Worten
19975 erblickt HERMES als Handbuch für die Entwicklung von Rechner-, Mess- und elektronischen Datenverabeitungssystemen das Licht der Welt. Nach einer größeren Überarbeitung wird es 1986 für die Bundesverwaltung der Schweiz als Projektführungsmethode für alle Projekte der Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) verbindlich. Im selben Jahr startet das deutsche Bundesministerium für Verteidigung zwei Softwareentwicklungsprojekte für Informationssysteme bzw. Waffen- und Waffeneinsatzsysteme. Ziel ist es, die Softwarequalität zu verbessern, Kosten über den Entwicklungs- und Pflegeprozess transparenter zu machen und zu begrenzen sowie die Entwicklung von Software im eigenen Umfeld zu standardisieren. Da verfügbare Prozessmodelle diese Anforderungen nicht abdecken, entsteht 1988 eine erste Version des V-Modells. 1992 erscheint mit dem V-Modell 92 eine zivile Fassung des V-Modells. In den folgenden Jahren wechseln sich die HERMES und V-Modell Aktualisierungen geradezu ab: HERMES 95, V-Modell 97, 2003 erscheint HERMES für Systementwicklung, 2005 das V-Modell XT und ebenfalls 2005 HERMES für Systemadaption.
HERMES 5 und V-Modell XT im Vergleich
Wie verändert sich nun HERMES 5 im Vergleich zu den derzeitig verfügbaren HERMES Methode und dem aktuellen V-Modell XT? Werfen wir einen kurzen Blick in das V-Modell XT:
Das V-Modell XT ist wie sein Vorgänger ein Systemerstellungsprozess. Im Gegensatz zum V-Modell 97 kennt das V-Modell XT eine Trennung von Auftraggeber und Auftragnehmer. Die inherenten Probleme des V-Modell 97, eine Systemerstellung zu adressieren, dabei aber mit dem Auftraggeber den falschen Adressaten zu wählen, wurden dadurch elegant aufgelöst. Im Idealfall bedeutet dies, dass es auf Seiten des Auftraggebers ein V-Modell XT Beschaffungsprojekt und ein zweites Systemerstellungsprojekt auf Seiten des Auftragnehmers gibt. Zusätzlich wird durch übereinstimmende Begrifflichkeiten der Austausch von Informationen und Ergebnissen erleichtert. Ähnlich wie HERMES ist das V-Modell XT in unterschiedlichsten Projektkonstellationen anwendbar. Zu Beginn des Projekts muss der Prozess deshalb auf die konkreten Projektbedingungen zugeschnitten werden. Diese Anpassung heißt Tailoring. Natürlich unterstützt die in-Step V-Modell XT Edition dieses Tailoring. Ein Assistent führt durch die Auswahl von Projekttypen, Projekttypvarianten und Projektmerkmalen sowie den damit verknüpften Vorgehensbausteinen. Siehe zur Veranschaulichung link. Ergebnis des “eXtreme Tailorings” (daher stammt das XT in Namen) ist ein projektspezifisches Vorgehensmodell. Es enthält nur die
Aktivitätstypen, Produkttypen und Rollen, die für die Realisierung erforderlich sind. Basierend auf dem Tailoring erfolgt die Projektplanung mit Aktivitäten und Produkten und dann natürlich die Projektdurchführung.
Und wie sieht HERMES 5 aus? HERMES 5 bleibt wie gehabt ein Phasenmodell mit Phasenfreigaben.
Die Initialisierungsphase wird verstärkt, in dem eine bewußte Beauftragung zur Erstellung eines Projektantrags gefordert wird. Der Projektantrag umfasst in der Folge eine Stakeholderanalyse, einen groben Projektplan und die Budgetbeschaffung. Neu hinzu kommen Module als Gruppierung von Aufgaben, Rollen und Ergebnissen. Die Module bilden den Methodenkern. Rollen, Aufgaben und Ergebnisse sind zu Gruppen strukturiert. Rollen werden darüber hinaus wie beim aktuellen V-Modell XT in Organisations- und Projektrollen unterschieden. Die Submodelle der derzeitigen HERMES Beschreibung fließen in die Module ein, so findet sich bspw. das Submodell Konfigurationsmanagement nun im Modul Projektsteuerung wieder. Wie in den Phasen konkret gearbeitet wird hängt von Szenarien ab. Die Systementwicklung und die Systemadaption finden sich in diesen Szenarien wieder. Anwender von HERMES 5 sind aufgefordert, zu den verfügbaren Szenarien wie IKT Anwendung mit Beschaffung, Integration und Migration der alten Lösung oder IKT-Infrastruktur Ausbau, weitere Szenarien zu ermitteln und über das ISB zu validieren. Diese Art der Zusammenarbeit funktioniert über die HERMES Anwendergruppe eco-HERMES (www.eco-hermes.ch) sehr gut.
Beurteilung der Unterschiede zwischen HERMES 5 und V-Modell XT
HERMES 5 und das V-Modell XT sind sicherlich Brüder im Geiste. Beides sind Phasenmodelle und definieren erwartete Ergebnisse pro Phase, legen beteiligte und verantwortliche Rollen fest und planen die Erstellung der Ergebnisse mit Aufgaben bzw. Aktivitäten. Der tätsächliche Ablauf richtet sich nach Szenarien oder Projekttypen, -merkmalen und -durchführungsstrategien. Über das Erreichen von Meilensteinen werden Phasenübergänge initiiert. Zur einfacheren Handhabung dienen Module bzw. Vorgehensbausteine. Die Trennung von Organisations- und Projektrollen ist bei beiden Vorgehen vorhanden. Bei der Verwendung der Vorlagen kennt das V-Modell XT Mustertexte, aber dieses Konzept lässt sich auch bei HERMES 5 mit einer entsprechenden Toolunterstützung leicht nutzen. Die V-Modell XT Dokumentation ist mit derzeit 932 Seiten sicherlich viel umfangreicher als das zu erwartende HERMES 5 Masterhandbuch. Allerdings enthält die V-Modell XT Dokumentation auch Konventionsabbildungen, da im Projektumfeld von Systementwicklungen zunehmend auch die Anwendung von nationalen oder internationalen Konventionen (Normen, Vorschriften) gefordert wird.
Beide Vorgehen versuchen im eigentlichen Sinne nicht agil zu sein, sondern Techniken wie Agilität zu ermöglichen. Dies geschieht bei HERMES derzeit bereits mit dem neu erschienenen agilen Leitfaden für HERMES. Auch andere Techniken wie UML, SysML, BPMN lassen sich integrieren. Das V-Modell XT kennt in sich noch die Einführung und Pflege eines organisationsspezifischen Vorgehensmodells, also praktisch die Weiterentwicklung/Anpassung an konkreten Unternehmenssituationen mit dem V-Modell XT selbst. Aber durch die verschiedenen Szenarien und entsprechendes Tailoring wird auch HERMES 5 sicherlich
Kundenspezifisch angepasst und genutzt werden. Zusätzliche behördenspezifische Erweiterungen wie bei dem V-Modell XT Bund oder dem V-Modell XT Bayern sind in der Schweiz derzeit nicht bekannt.
Die Zertifizierungsprogramme beim V-Modell XT gehen mit dem Zertifikat Pro für Projektleiter und QS-Verantwortlicher, Asor für Assessoren und Ping für Prozessingenieure gehen evtl. etwas weiter als die schweizerischen Zertifikate des HERMES Swiss Project Team Professionals (HSPTP) bzw. des HERMES Swiss Project Managers (HSPM). Trotz dieser kleinen Unterschiede bleibt an sich nur ein Fazit: Brüder im Geiste.
Ausblick in die Zukunft
HERMES 5 als auch das V-Modell XT entwicklen sich in dieselbe Richtung. Dies tun sie mehr oder weniger unabhängig voneinander. Die kleinen Aktualisierungen seit der Freigabe des V-Modell XT (zuletzt wurde die DIN 69901 in die Konventionsabbildungen aufgenommen, die Rollen in Organisations- und Projektrolle kategorisiert und Beteiligungsarten von Rollen bei einzelnen Produkten angepasst) zeigen, dass das V-Modell XT eine gewisse Reife erreicht hat. Auch bei HERMES 5 ist lediglich mit kleineren Anpassungen, bspw. durch die Erweiterung der Szenarien, in den kommenden Jahren zu rechnen.
In welche Richtung geht also die Reise?
Der WEIT e.V. (http://www.weit-verein.de) möchte zukünftig die IT Infrastructure Library (ITIL) in das V-Modell XT integrieren. ITIL beschäftigt sich mit der Planung, Erbringung und Optimierung von IT Serviceleistungen und hat ein sehr positives Image im deutschsprachigen Raum. Natürlich möchte der WEIT e.V. dieses Image nutzen und nimmt damit im Kauf, dass der Umfang des V-Modell XT nochmals steigen wird. Image ist bei der weiteren Reise sicherlich ein wichtiger Faktor, denn Vorgehensweisen wie Scrum leben auch davon, dass sie als leicht verständlich und anwendbar gelten.
Auf der V-Modell XT Anwenderkonferenz im November 2011 wurden die Teilnehmer um Ihre Meinung zu künftigen Weiterentwicklungen gebeten. Ergebnis:
1. Anpassen der Begrifflichkeiten an standardisierte Begriffe des Projektmanagement: 10 Stimmen
2. Einstieg mit weniger Seiten (Grundlagen auf 20 anstelle von 80 Seiten): 8 Stimmen
3. Beseitigung von Redundanzen wie bspw. Systeme und Unterstützungssysteme: 3 Stimmen
4. Intuitiv einsetzbar für Anfänger, Fortgeschrittene, Experten durch verschiedene Level der Dokumentation: 1 Stimme
Über Begrifflichkeiten wird immer wieder gestritten werden. Ist es aber für die gelebte Praxis wichtig, ob es ein “Entscheidungspunkt” oder “Meilenstein” ist? Immerhin soll zukünftig der Einstieg mit einer kürzeren Beschreibung erleichtert werden. Es gibt Firmen, die beschäftigen sich mit der Nutzung eines minimalen V-Modell XT. Wäre es nicht toll, wenn es neben einem leichteren Einstieg auch ein leichteres Vorgehen gäbe? Eine Art auf Best Practices basierendes minimales V-Modell XT? Ein veröffentlichtes Vorgehen, dass dem V-Modell XT Kern genügt und alles unnötige beiseite lässt? Die vorhandenen Zertifizierungen Konf für V-Modell XT konforme Vorgehensmodelle und Pur für V-Modell XT konforme Projektdurchführungen könnten zukünftig ihren Zweck erfüllen. Das V-Modell XT würde leicht beweisen, dass es mehr bietet als die Erstellung von
Dokumenten zum Austausch zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer. Bei entsprechenden Zertifizierungsprogrammen in der Schweiz könnten sich auch dortige Auftraggeber bei der Vergabe von Aufträgen für Unternehmen mit entsprechenden Nachweisen entscheiden. Nachweise könnten zu einem besseren Image führen. Und erfolgreiche Projekte zu einer stärkeren Nutzung der beiden Vorgehen auch
über Landesgrenzen hinweg. Wäre das für die Macher von HERMES und V-Modell XT nicht ein schönes Ziel?
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