Santa Lucia! Umgang mit Unsicherheit in Projekten
Santa Lucia und der Staudamm – Scheitern trotz Plan
2009 bekommt die südamerikanische Dschungelstadt Santa Lucia von der Zentralregierung aus dem Infrastruktur-Topf Geld, das sie nach eigenem Ermessen ausgeben darf. Santa Lucia beschließt, davon eine Straße zu einem abgelegenen Bergdorf zu bauen, zu dem nur ein gefährlicher Trampelpfad führt. Da die Stadtväter von Santa Lucia nichts anbrennen lassen wollen und sich nachher auch nicht vorhalten lassen wollen, sie hätten schlampig gearbeitet, wird ein renommiertes Straßenbauunternehmen aus der Hauptstadt mit der Angelegenheit beauftragt. Für das erste Drittel des zur Verfügung stehenden Budgets soll zunächst einmal ein detaillierter Plan der Straße entstehen. Das Straßenbauunternehmen erkundet also zunächst drei Monate lang das Gelände. Es werden Bodenproben entnommen, Böschungswinkel gemessen, Sumpfgebiete gesichtet, Brückenlängen berechnet und Bäume gezählt. Am Ende steht ein minutiöser Straßenbau-Projektplan für die 12 km Straße: Neun Bauabschnitte, 27 Projektmeilensteine und insgesamt 138 sorgfältig durchdeklinierte Projektaktivitäten nebst einem 98-seitigen Feinkonzept stellen dar, was in der kommenden Zeit passieren wird. Der Plan überzeugt und beruhigt die Stadtväter von Santa Lucia – ganz offenbar ist die Lage im Griff und der Startschuss fällt! Die nächsten drei Monate vergehen wie im Fluge und schon bald ist man in Bauabschnitt IV, nur knapp 100.000 $ hinter Budget und 5 Wochen hinterm Zeitplan. Gerade ist die erste von insgesamt drei Betonbrücken fertiggestellt, als aus der Hauptstadt eine üble Nachricht eintrifft: In der Gegend wird schon bald ein großer Staudamm entstehen! Hektisch schickt Santa Lucia einige Beamte und den Bauleiter in die Hauptstadt. Es stimmt, der Staudamm wird den Straßenbauplan leider komplett durchkreuzen: nur die ersten vier Kilometer werden “an Land” sein, alles weitere fällt sprichwörtlich ins Wasser. Das unrühmliche Ende des Projekts ist schnell erzählt: Noch heute befindet sich Santa Lucia mit der Zentralregierung in drei verschiedenen Rechtsstreits. Die Straßenbaufirma wiederum befindet sich mit Santa Lucia in einem. Und die fertiggestellten Straßenkilometer? Die holt sich der Regenwald gerade zurück…
Toll geplant und trotzdem vor die Wand gefahren – was ist passiert?
Obwohl Santa Lucia doch an alle Eventualitäten gedacht hat, um die Unsicherheit aus dem Projekt zu nehmen, ist es grandios gescheitert. Viele Projekte haben Ähnlichkeiten zur Straße von Santa Lucia – und da einige Muster häufiger anzutreffen sind, ist es wert, sie mal genauer anzuschauen:
Auch mit viel Geld lässt sich keine Zukunft vorhersehen: Es ist verlockend, zu Anfang eines Projekts eine Menge Energie und Aufwand in möglichst detaillierte Konzepte und (Projekt-)Pläne zu stecken: Das senkt die Unsicherheit von Projektsponsor und Projektteam und vermittelt schnell das leider trügerische Gefühl, das Projekt “im Griff” zu haben. Leider haben all die vielen Pläne und Konzepte ein Problem: Sie sind ein Versuch, die Zukunft vorherzusagen. Das kann mal gut gehen (für Dinge, die nur wenige Tage oder maximal Wochen in der Zukunft liegen) – in aller Regel tut es das aber nicht. Dann ist man wie Santa Lucia in einer Situation, in der man viel Zeit und Geld in einen leider obsolet gewordenen Plan gesteckt hat.
Die Welt dreht sich weiter: Selbst wenn ein sorgsam zusammengestellter Projektplan und ein ausgetüfteltes Feinkonzept alle – also wirklich alle – bekannten Eventualitäten einbeziehen, dreht sich die Welt weiter und Ereignisse von morgen sind notwendigerweise nicht berücksichtigt. Genaue Konzepte sind häufig der Versuch, die Zukunft nicht nur vorherzusagen, sondern auf dem analysierten Stand “einzufrieren”. Etwas, das selbst erfahrenen Hellsehern bislang noch nicht gelungen ist.
Groupthink: Projektpläne und Konzepte entstehen meist in einer engeren Gruppe – gerne im “Projektkernteam”. Wer einmal Mitglied einer solchen kleinen eingeschworenen Gemeinschaft war, weiß, dass ein gewisses Renommée mit dieser Mitgliedschaft einhergeht. Und das bedeutet, dass zu zweiflerische Meinungen zu den selbst gemachten Konzepten und Plänen sozial nicht erwünscht sind – auch wenn sie angebracht und korrekt wären. Die Folge ist eine sich gegenseitig selbst bestätigende Gruppe, die zur Realität zunehmend den Kontakt verliert.
Verliebt in den eigenen Plan: Feinsinnig ausgedachte detaillierte Pläne haben einen weiteren Nachteil: man verliebt sich sehr leicht in sie! Sie sind Produkte des eigenen Geistes, auf die man zu Recht stolz ist. Und zwar gerne mal so stolz, dass man sie nicht aufgibt, auch wenn eigentlich klar ist, dass sie nicht mehr die Realität abbilden.
Das peinliche Gefühl, es versemmelt zu haben: Selbst wenn man sich selbst schweren Herzens von der Verliebtheit in den eigenen genauen Projektplan verabschieden kann – meist steht man beim Projektsponsor in der “Schuld” – mal Hand aufs Herz: Welchem Projektleiter geht das folgende Eingeständnis leicht über die Lippen: “Tut mir leid, wir haben zwar in den vergangenen drei Monaten mit den 13 Experten ein detailliertes Konzept erarbeitet, aber das ist Kokolores. Wir müssen es wegwerfen und von vorne anfangen!” – Da geht es dann meist direkt weiter beim…
Suchen der Schuldigen: Niemand gibt gerne zu, dass der eigene Plan leider unvermutet doch nicht der Weisheit letzter Schluss war und krachend vor der Wand eines Staudamms gelandet ist. Ein sehr menschlicher Reflex ist, die Schuld für die Situation von sich zu weisen – und das geht am einfachsten, wenn jemand anderes der Schuldige ist. Und deswegen werden gerade in Santa Lucia unter Ausschöpfung des vollen Rechtswegs die Schuldigen gesucht – für Alternativen fürs Projekt bleibt da natürlich keine Zeit mehr übrig.
Hemdsärmelig in San Jose – Leben mit Projektunsicherheit
Zeitgleich zum unglücklichen Santa Lucia bekommt auch San Jose 2009 einen Topf Geld für Infrastrukturmaßnahmen. Auch San Jose beschließt, das Geld für eine Straßenverbindung in das Bergdorf zu verwenden, das ebenfalls auf einem (anderen) schlammigen und gefährlichen Trampelpfad erreicht werden kann. San Jose geht anders vor und verzichtet völlig auf einen Projekt- und Bauplan. Stattdessen wird der örtliche Fuhrunternehmer zusammen mit fünf Bauarbeitern beauftragt, sich zu Fuß auf den Weg ins Bergdorf zu machen und alle Stellen des Trampelpfads zu vermerken, die für beladene Maultiere nicht gangbar wären – und herauszufinden, was man minimal tun müsste, um das zu ändern. Zwei Wochen später können die Bauarbeiten an diesen sieben Stellen gestartet werden und nur einen Monat später liefern erstmals beladene Maultiere interessante Waren zum Wochenmarkt von San Jose. Zeitgleich hat der Fuhrunternehmer bereits den nächsten Auftrag: Was müsste man am Maultierpfad ändern, damit die Maultiere einen schmalen Karren auf ihm entlangziehen könnten? Wieder werden eine Menge Stellen identifiziert, die geändert werden müssten. Auch dies wird angegangen und wenige Monate später können Waren auf Karren verladen und nach San Jose gebracht werden. Zum selben Zeitpunkt ist der Fuhrunternehmer bereits zusammen mit ein paar Bauarbeitern unterwegs und findet heraus, was man am Weg noch ändern muss, um mit einem kleinen Geländewagen bis ins Bergdorf zu gelangen…
Projekterfolg trotz Unsicherheit – wie kam es dazu?
San Jose geht offenbar ganz anders mit dem Straßenbauprojekt um als Santa Lucia. Anstelle den “großen Wurf” eines allumfassenden, alles berücksichtigenden Projektplans an die erste Stelle zu setzen, legt San Jose einfach mal los und geht einen kleinen Schritt nach dem anderen – wobei jeder Schritt so angelegt ist, dass am Ende etwas Nützliches für die Allgemeinheit dabei herumkommt. San Jose lässt dabei die typischerweise zu Anfang beantworteten Fragen außer Acht wie
- Wann genau wird eine zweispurige geteerte Straße fertig sein?
- Wo wird sie lang führen?
- Wie weit wird man in genau einem Jahr sein?
- Wie ist der Zustand der Verkehrsverbindung zu dem Zeitpunkt, an dem das Infrastrukturgeld aufgebraucht ist?
- u.ä.
Der Grund ist simpel: zum einen würden die Antworten auf diese Fragen kein Problem lösen – und zum anderen wären sie (siehe Santa Lucia) möglicherweise nur mit viel Aufwand zu erkaufen – und dennoch falsch. San Jose nimmt diese Unsicherheit bewusst in Kauf und konzentriert sich auf das Wesentliche: die Straße. Und selbst wenn San Jose nach ein paar Monaten von einer Staudamm-Nachricht überrascht werden sollte: es hat nicht viel mehr verloren als einen Weg für Maultierkarren, der sich bereits rentiert hat.
Fazit
Detaillierte Konzepte und penibel genau ausgearbeitete Projektpläne sind leider keine Garantie für den Projekterfolg. Auch dazu, Projektunsicherheiten von vorneherein auszuschließen, taugen sie nur sehr bedingt. Es gibt einen Punkt, an dem jeder weitere Euro, der in die Vorab-Reduktion von Projektrisiken gesteckt wird, keinen nennenswerten risikoreduzierenden Effekt mehr hat. Und dieser Punkt ist früher erreicht, als man denkt.
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