Tatsachengesteuerte Unternehmensführung
„Postfaktisch“ wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache e.V. als das Wort des Jahres 2016 gewählt. Es kommt von „post-truth“ und deutet darauf hin, dass Emotionen bei politischen und gesellschaftlichen Diskussionen mehr zählen als Fakten. Die Psychische Kohärenzregelung¹ erklärt, wie der Mensch auch ohne Fakten und absoluter Wahrheit funktioniert. Das Neue beim Postfaktischen ist, dass sich einfache Effekte aus Nichtwissen schneller durch IT-Strukturen und die vorhandene Vernetzung entwickeln. So entstehen Tatsachen, die außerhalb der Kontrolle des Einzelnen liegen, aber in dem jeweiligen IT-System Spuren hinterlassen. Wie können diese Spuren zur tatsachengesteuerten Unternehmungsführung genutzt werden?
Wie konnte das nur passieren?
Wann haben Sie das letzte Mal aus Unglauben oder Überraschung den Kopf geschüttelt? Hat Sie die Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten überrascht? Haben Sie den Austritt von Großbritannien aus der EU vorhergesehen oder die Zustimmung zur Verfassungsreform in der Türkei? Diese politischen Veränderungen stellen das bestehende Zusammenwirken zwischen Nationen auf den Prüfstand. Vielleicht überrascht Sie auch die Meldung, dass die Firma Samsung trotz der Schwierigkeiten beim Vorzeige-Smartpohne Galaxy Note 7 mit brennenden Akkus und einer weltweiten Rückrufaktion den Gewinn im vierten Quartal 2016 verdoppeln konnte? Ich persönlich bin über die 8,7 Millionen Kilometer verwundert, die bis Ende 2016 zurückgelegt wurden, um virtuelle Pokémons zu jagen.
Der Umgang mit dem Wandel, und die Verknüpfung der vorhandenen Expertise mit neuen Informationen und Erkenntnissen, ist nicht nur für Wissensmanager interessant, sondern eine der zentralen Aufgaben der Unternehmensführung. Trotz Automatisierung, trotz Wissensmanagement, trotz Expertenwissen kommt es vor, dass das Management von plötzlich auftauchenden Lieferantenproblemen, neuen Kundenwünschen und daraus resultierendem unerwartetem Mitarbeiterverhalten überrascht wird. Das Management kann dann (a) an seiner Planung festhalten und gegen diese Abweichungen arbeiten, oder (b) vorab für Rahmenbedingungen sorgen, die die zuvor unbekannten Tatsachen in Echtzeit thematisieren, um diese dann direkt für die Anpassung der Geschäftsprozesse zu nutzen.
Tatsachengesteuerte Unternehmensführung – schnell auf Veränderungen reagieren
Vereinbarungen UND Entkopplung
Wann wurden Sie das letzte Mal von Ihrem Partner, einem Freund oder Mitarbeiter missverstanden? Welche Kontakte meiden Sie, da das Leben ohne diese Personen angenehmer ist? Es gibt Menschen, mit denen verbringen wir gerne Zeit, andere meiden wir. Das ist gut so, denn unsere Zeit ist limitiert, wir sollten damit sorgsam umgehen. Ich hatte den Glauben, dass Konsens im großen Stile erreichbar ist. Doch mit meinem Projekt Consenser.org bin ich gescheitert. In meinen philosophischen Cafés trafen sich regelmäßig Experten aus verschiedenen Fachbereichen zu definierten Themen. Doch wenn sich Experten aus verschiedenen Fachbereichen treffen, bringt jeder Experte seine eigene Sprache, seine Modelle und sein Domainwissen mit. So geht meist sehr viel Zeit auf die Definition von Begriffen, auf die Übersetzung von Bedeutungen und auf Verwendung von gemeinsam verständlichen Bildern drauf. Leider führt dies häufig dazu, dass Menschen aneinander vorbei reden. Doch eine wichtige Erkenntnis konnte ich aus diesen Treffen ziehen: Für ein gelungenes Zusammenleben und Zusammenarbeiten braucht es Vereinbarungen UND Entkopplung. Für das Treffen von Vereinbarungen braucht es ein gemeinsames Verständnis. Liegt dies nicht vor, gibt es zwei Möglichkeiten damit umzugehen. Entweder man nimmt sich die Zeit, zur Schaffung einer Kommunikationsschnittmenge in Form geteilter Modelle und Sprache oder man reduziert die gemeinsame Zeit gegen Null. Viele unnötige Konflikte lassen sich durch Kontextfokussierung und Entkopplung im Nichts auflösen.
Ein Beispiel für Entkopplung
Es ist wenig überraschend, wenn eine IT-Abteilung anders denkt als die Vertriebsabteilung. Mitarbeiter im Vertrieb agieren marktgetrieben und hoch dynamisch. Sie fordern innovative Produkte und wünschen sich einen perfekten Service. Die IT-Abteilung möchte, dass ihre IT-Systeme dauerhaft und zuverlässig funktionieren. Je geringer die Systemvielfalt ist und je standardisierter die IT-Systeme gehalten werden, desto einfacher lässt sich dies realisieren. Meistens haben die vom Vertrieb dringend benötigten Anpassungen der Geschäftsprozesse in der IT-Abteilung eine geringere Priorität. Dies ist aus der Perspektive der IT leicht nachvollziehbar. Aus der Perspektive der Wertschöpfung für das Gesamtunternehmen müsste aber der neue Geschäftsprozess direkt umgesetzt werden. Der prozessverantwortliche Vertrieb muss mit seinen Prozessplänen firmenpolitisch aktiv werden, damit die Änderung des Geschäftsprozesses eine höhere Priorität in der Aufgabenliste der IT-Abteilung bekommt. Das kann sehr kräfteraubend sein und ein Erfolg ist nicht garantiert. Schnell macht sich eine Resignation breit und man setzt einfach das fort, was vorhanden ist. Kennen Sie dieses Gefühl der Machtlosigkeit?
Wie wird in Ihrem Unternehmen über eine notwendige Anpassung von Geschäftsprozessen entschieden? Wer hat die Kompetenz zu bewerten, wie wichtig die Umsetzung einer Änderung für das Unternehmen ist? Am Ende wird oft das Top-Management um Schlichtung zwischen IT-Abteilung, Fachabteilung und Prozessverantwortlichen gebeten. Hätte die Vertriebsabteilung die Fähigkeit und Zeit, ihre eigenen Geschäftsprozesse umzusetzen, dann wäre sie von der IT-Abteilung unabhängig und damit entkoppelt. Konflikte würden häufig erst gar nicht entstehen. Sie können sich das so vorstellen wie bei einem Smartphone: Sie könnten als Benutzer selbständig Apps personalisieren, ohne dass Sie mit einem Programmierer etwas vereinbaren müssten. Wäre das nicht schön, wenn dies mit Geschäftsprozessen auch so einfach wäre?
Ein Beispiel für Vereinbarung
Die IT-Struktur gibt klar vor, was vereinbart ist. Passt etwas nicht, so kann der IT-Anwender dies auch ohne Kenntnisse von Programmierung oder Prozessen kommunizieren. Ad-hoc können sogar manche Anwender neue Geschäftsprozesse initiieren. Diese Option muss natürlich durch das verwendete IT-System unterstützt werden und die neuen Tatsachen sollten Gegenstand in einem anschließenden Vereinbarungsgespräch sein. Dort legen Sie fest, ob und wie das IT-System dauerhaft mit den neuen Inhalten verfahren soll. Sicherlich ist es einfacher, etwas Bestehendes nach und nach anzupassen, als vorab zu vereinbaren, wie zukünftige Geschäftsprozesse endgültig auszusehen haben. Gelebte Geschäftsprozesse schaffen einen gemeinsamen Kontext, über den es sich einfacher sprechen lässt. Aus der Schwierigkeit, viele unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen, werden Vereinbarungsprozesse oft mit einer einzigen Entscheidung durch eine Person oder Gruppe beendet. Besser ist ein iteratives Vorgehen, in dem die Erfahrungen und die Perspektivenvielfalt der IT-Anwender kontinuierlich berücksichtigt werden.
Die Balance zwischen Vereinbarung und Entkopplung
Die passende Balance zwischen Vereinbarung und Entkopplung zwischen IT-Abteilung, Prozessverantwortlichen und IT-Anwendern sorgt dafür, dass im Vertrieb schneller und friedvoller die Kundenwünsche erfüllt werden und Mitarbeiterideen in die Geschäftsprozesse einfließen. Dafür muss der Vertrieb befähigt sein – unabhängig von der IT-Abteilung – diese Änderungen zeitnah umsetzen zu können. So gewinnen alle Beteiligten:
- Die IT-Abteilung kann sich auf Ihre eigentliche Arbeit konzentrieren und muss weder die Details der sich ständig ändernden Geschäftsprozesse verstehen noch sich darum kümmern.
- Die Prozessverantwortlichen ersetzen Firmenpolitik auf Basis von Prozessplänen durch vereinbarte und gelebte, immer besser passende Geschäftsprozesse.
- Die Mitarbeiter bringen ihre Ideen ein und können auf neue Situationen, Überraschungen und Kundenwünsche ad-hoc reagieren.
- Der Geschäftsführer freut sich über die friedvolle Transformation der Organisation in die richtige Richtung.
Hinweise
[1] Die psychische Kohärenzregelung erklärt: http://nichtwissen.com/Wissen_über_Nichtwissen/psychische-kohärenzregelung
Weitere Blogbeiträge von Daniel Juling finden Sie unter http://nichtwissen.com/.
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