Wahl oder Qual: Die VORgesetzten
Wertewandel, Mitbestimmung und Unternehmensdemokratie – viele Unternehmen beschäftigen sich mit diesen Themen. Sie beschäftigen sich damit, weil sich die Beschäftigten der Unternehmen damit beschäftigen. Bei den Themen geht es Unternehmen nicht primär um Gewinnmaximierung, sondern um Beteiligung, Identifikation und Interaktion. Mitarbeiter, die sich in Diskussionen einbringen und gemeinsam Lösungen entwickeln dürfen, identifizieren sich leichter mit einem Vorhaben, einem Projekt oder einer Firma. Und diese Identifikation führt zu geringerer Fluktuation, mehr Stabilität und geregelteren Abläufen. Doch trotz aller Mitarbeiterbeteiligung – Entscheidungen müssen häufig von einer konkreten Person getroffen, finanziell freigegeben oder juristisch autorisiert werden. Diese Person ist meist der Vorgesetzte oder Vorgesetzte des Vorgesetzten. Was wäre aber, wenn Mitarbeiter diese Vorgesetzten wählen könnten? Worauf müssten Unternehmen und ihre mitbestimmenden Mitarbeiter achten, welche Fragen und Herausforderungen könnte es geben?
Praktische Beispiele bei der Wahl von Chefs
Gibt es Organisationen, in der Chefs von Mitarbeitern gewählt werden? Ja. Gibt es Unternehmen, in denen Vorgesetzte gewählt werden? Ja, aber nur wenige. Eine Organisation kann ein Verein sein, ein Fussballverein beispielsweise. Viele Mannschaften wählen Ihren Kapitän selbst. Der Kapitän ist zwar eine Art Chef, aber kein Vorgesetzter im engeren Sinn. Er führt die Mannschaft auf das Feld, geht idealerweise in schwierigen Spielsituationen als Kämpfer voran, gibt Kommandos und motiviert die Teamkollegen. Er verhandelt Siegprämien oder organisiert in den niedrigeren Ligen den Kasten Bier für die dritte Halbzeit. Ein solcher Kapitän hat eine Verantwortung für sein Team, auch wenn diese relativ klein scheint. Natürlich gibt es auch Vereine, in denen der Trainer den Kapitän bestimmt. Unabhängig davon, ob der Kapitän ernannt oder gewählt wird, die Aufgaben des Kapitäns bleiben identisch. Und auch die Erwartungen an den Kapitän verändern sich nicht. Eventuell hofft die Mannschaft auf eine bessere Kommunikation mit dem Trainer oder der Vereinsführung. Und der Trainer sieht im Kapitän seinen verlängerten Arm auf dem Rasen. Nur schwer lassen sich Vorteile für eine Wahl oder eine Ernennung finden. Was in der Praxis aber durchaus vorkommt, ist der Wechsel der Methode. Nur weil einmal der Mannschaftskapitän von der Mannschaft ausgesucht wurde, heißt das nicht automatisch, dass er beim nächsten Mal wieder durch das Team gewählt wird. Der Trainer, der in den meisten Vereinen verantwortlich für den Erfolg des Teams ist, bestimmt die Regeln. Er kann also unabhängig vom Empfinden des Teams und dessen Zufriedenheit mit dem Kapitän einfach festlegen, dass er einen anderen Kapitän möchte. Solch ein Wechsel der Methode oder ein Vetorecht können auch für Unternehmen relevant werden.
Die Wahl der Vorgesetzten – ist das die Zukunft in Unternehmen?
Neben Sportvereinen gibt es auch weitere Beispiele von Organisationen, die ihre Chefs selbst wählen. Die Berliner Philharmoniker wählen seit ihrer Gründung 1882 nicht nur die Musiker sondern auch ihren Chefdirigenten selbst. 2015 war es wieder soweit. In vielen Sitzungen wurde gemeinsam überlegt, welche Eigenschaften sowie kommunikativen und sozialen Fähigkeiten der neue Dirigent mitbringen sollte. Die Diskussionen zog sich über mehrere Monate hin und am Ende fiel die Entscheidung auf Kirill Petrenko, einen externen Dirigenten. Einerseits nehmen die Berliner Philharmoniker als eines der besten Orchester weltweit sicherlich eine Sonderstellung ein, andererseits lässt sich eine solche Vorgehensweise auch auf Firmen übertragen. Bei der Wahl eines Vorgesetzten in einem Unternehmen geht es auch um Eigenschaften und Fähigkeiten der zu wählenden Person, wenngleich diese Person in den allermeisten Fällen bereits in der Organisation beschäftigt sein wird. Im Gegensatz zu der Berliner Dirigentenwahl handelt es sich somit um eine vergleichsweise begrenzte Wahl. Interessant ist der zeitliche Aufwand, den die Philharmoniker betrieben haben – ein Aspekt, den Unternehmen bei der Entscheidung, ob sie künftig Chefs von Mitarbeitern wählen lassen wollen, zumindest berücksichtigen sollten.
Tatsächlich gibt es auch Unternehmen wie die Haufe-Umantis AG aus St. Gallen, bei der die Mitarbeiter seit 2013 ihre Führungskräfte selbst wählen. Wählen darf jeder der 120 Mitarbeiter, nominieren auch. Interessenten können sich jederzeit selbst oder andere für einen Posten vorschlagen. Vor der Wahl findet eine Abstimmung der Erwartungen statt, so dass Ziele, Motive und Vorgehensweisen besprochen werden können. In der Firma herrscht ein positives Menschenbild, denn Marc Stoffel, der durch die Mitarbeiter gewählte CEO der Firma, stellt fest, „dass Mitarbeiter grundsätzlich das Beste für ihr Unternehmen wollen. Und sie wissen sehr genau, was es braucht, um noch erfolgreicher zu werden. Gerade deshalb macht es ja Sinn, dass sie an diesem Entscheidungsprozess, wer ihr neuer Chef wird, beteiligt sind und so eine zweiseitige Beziehung entsteht.“¹
Experten oder eine Frage des Blickwinkels
In den meisten Unternehmen bekommen Mitarbeiter ihre Vorgesetzten vorgesetzt. Selbst in Unternehmen, die Mitbestimmung als besonders wichtig ansehen, werden Vorgesetzte nicht durch Mitarbeiter, sondern durch Experten bestimmt. Diese Experten – häufig die Angestellten in den Personalabteilungen – definieren mit den Verantwortlichen der Fachabteilungen Kenntnisse und Fähigkeiten und wählen dann in der Folge den aus ihrer Sicht am besten passenden Kandidaten für die zu besetzende Position aus. Unternehmen, die den Prozess der Auswahl und die Faktoren bei der Entscheidungsfindung nicht kommunizieren, nutzen diese Chance zur Mitarbeiterbeteiligung nicht. Selbst bei der Besetzung von Positionen in einem Team werden selten die Kollegen nach ihren Meinungen befragt, die fortan täglich mit dem neuen Mitarbeiter zusammenarbeiten sollen. Hier wäre Mitarbeiterbeteiligung am leichtesten zu erreichen.
Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet sind auch die Angestellten in Personalabteilungen Mitarbeiter einer Organisation. Sie sind Spezialisten in der Auswahl von Mitarbeitern und Vorgesetzten, kennen gesetzliche Regelungen und führen Vertrags- und Gehaltsverhandlungen. Alleine die Tatsache, dass sich nur wenige Spezialisten in einem Unternehmen mit der Auswahl von Vorgesetzten beschäftigen, ist deutlich effizienter als würden sich alle Mitarbeiter mit der Wahl auseinandersetzen. Übrigens: Sofern Sie nicht bei den Berliner Philharmonikern musizieren oder selbst Arbeitgeber sind, hat diese Spezialisierung dazu geführt, dass auch Sie Mitarbeiter eines Unternehmens wurden.
Herausforderungen in Organisationen
Wenn sich Unternehmen Gedanken über Mitarbeiterbeteiligung, über demokratische Ideen und Möglichkeiten austauschen, sollten sie ihren Kontext betrachten. Der Kontext bestimmt die Herausforderungen in Organisationen. Ein Konzern mit mehreren 100.000 Mitarbeitern wird nicht mal im Ansatz auf den Gedanken kommen, den Vorstandsvorsitzenden von der Belegschaft wählen zu lassen. Und auch in einer Behörde mit definierten Behördenlaufbahnen, in denen Mitarbeiterbewertungen und Beförderungen nach fest vereinbarten Schlüsseln erfolgen, werden Vorgesetzte nicht durch Mitarbeiter gewählt werden können. Welche Überlegungen sollten also Unternehmen anstellen, wenn Sie tatsächlich das Experiment wagen und Vorgesetzte durch die Mitarbeiter wählen lassen wollen?
- Der Wahlkampf
Wenn es mehr Bewerbungen als offene Stellen gibt, darf es einen Wahlkampf geben? Welche Plattformen werden geboten, wie erfolgt der Austausch untereinander und die Moderation des Ablaufs? Wie lange darf der Wahlkampf gehen, wieviel Zeit dürfen Bewerber und die wählenden Mitarbeiter investieren? Wer sorgt für die Einhaltung der Regeln und was passiert, wenn diese nicht eingehalten werden? - Die eigentliche Wahl
Wie wird die Wahl durchgeführt? Wird geheim oder öffentlich gewählt? Wer darf abstimmen (nur das unmittelbar betroffene Team oder alle Mitarbeiter, die mit dem betroffenen Team später zusammenarbeiten)? Wer zählt die Stimmen aus, wer überprüft die Zählung und wie werden die Zahlen dokumentiert? Gibt es ein Schiedsgericht bei strittigen Ergebnissen? - Die Wahlperiode
Für welchen Zeitraum wird gewählt? Für eine feste Dauer von bspw. einem Jahr oder für eine Laufzeit eines Projekts – was passiert, wenn sich das Projekt verlängert? Wie lässt sich der administrative Aufwand bei kurzen Wahlperioden bspw. bei Vertragsgestaltungen und -anpassungen begrenzen? - Das Misstrauensvotum
Was passiert im Laufe der Wahlperiode, wenn Teammitglieder unzufrieden mit Vorgesetzten sind? Werden Regeln definiert, die zur geordneten Abwahl eines Vorgesetzten führen können? Und wie geht eine Organisation mit einer „Mehrheitsdiktatur“ um, die eventuell die Vorteile für ein Team sieht, aber nicht das große Ganze des Unternehmens? - Die Wahlbeteiligung
Ab wann ist eine Wahl gültig? Benötigt ein gewählter Vorgesetzter die absolute Mehrheit oder genügt bereits eine einfache Mehrheit? Was passiert, wenn keine absolute Mehrheit zustande kommt? Wie häufig können Wahlen wiederholt werden? - Mitarbeiterbetreuung und -reputation
Wie geht das Unternehmen mit Mitarbeitern um, die eine Wahl verlieren und somit nicht die Aufgabe ausüben dürfen, die sie gerne ausüben wollten? Und was passiert mit abgewählten Vorgesetzten, mit Gehältern und Vergünstigungen? - Das Vetorecht
Gibt es Vetorechte? Wer bekommt Vetorechte und in welchen Situationen dürfen Vetorechte wie häufig benutzt werden?
Eine zusätzliche, vielleicht sogar die schwierigste Herausforderung liegt in der Beurteilung der Vorgesetztenwahl. Woran können Unternehmen festmachen, dass interne Wahlen ein gutes Instrument sind? Wer trifft diese Beurteilung? Und was passiert, wenn bei künftigen Wahlen die Wahlbeteiligung sinkt – wäre das ein Indikator, dass das Interesse an einer Mitarbeiterbeteiligung ebenfalls sinkt und was ergibt sich daraus in der Folge?
Fazit
Wenn sich Unternehmen mit der Beteiligung von Mitarbeitern beschäftigen, ist die Wahl von Vorgesetzten eine logische Fortsetzung der Unternehmensdemokratie. Eine solche Wahl wäre für viele Unternehmen aber ein Experiment, für das es keine Best Practices gibt. Wollen Unternehmen dieses Experiment wagen, könnten sie schrittweise vorgehen und das Experiment als Versuch und die Motive, Ziele und Herausforderungen offen intern diskutieren. Dann müssten sie sich – idealerweise gemeinsam mit den Mitarbeitern – entscheiden, nach welchen Kriterien die Ergebnisse beurteilt werden sollten. Sie könnten „softe“ Zufriedenheitsumfragen durchführen, „harte“ Fakten wie Umsätze, Gewinne, Projektlaufzeiten oder ausgewählte Key Process Indikatoren miteinander vergleichen und so entscheiden, ob die Mitarbeiterbeteiligung fortan so weit gehen soll, dass Vorgesetzte durch Mitarbeiter gewählt werden.
Hinweise
[1] „Wenn Mitarbeiter den Chef auswählen“, Handelsblatt-Interview mit Marc Stoffel
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