5 Dinge, die Software-Entwickler von Designern lernen können
Innovation ist in aller Munde und die digitale Transformation uns auf den Fersen. In diesem Zusammenhang stößt man in allen möglichen Medien zur Zeit auf das Thema Design Thinking. Denken wie ein Designer – passt das auch für Software-Entwickler? Und was heißt das überhaupt?
Design Thinking ist ein Innovationsansatz, der sich vom designerischen Denken ableitet und als solcher maßgeblich von David Kelley und Bill Moggridge standardisiert wurde. Es macht das Angebot, auf der Suche nach innovativen Ideen und deren Umsetzung neue Wege einzuschlagen. Der Ansatz begründet sich auf Empathie und radikaler Zusammenarbeit. Klingt abstrakt? Stimmt – Design Thinking lässt sich schwer erklären, ist es doch eher die Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen, die andere nicht sehen und zu wissen, wie man sie umsetzt.
Ein Beispiel für Design Thinking
Der iTunes Store öffnete Anfang 2003. Damals war Apple ein komplett anderes Unternehmen als heute. iTunes lief zunächst nur auf dem MAC, der damals ungefähr 5% Marktanteil hatte. Die Musikindustrie war zu dem Zeitpunkt sehr besorgt über Napster. Als Apple auftauchte und anbot, Musik über iTunes legal zur Verfügung zu stellen, dachten sich viele Entscheider wohl:
Na ja – warum eigentlich nicht?…
…ein paar Monate später erweiterte Apple iTunes auf Windows.
Während die Musikindustrie annahm, dass viele Menschen nicht für die Musik bezahlen wollen (was auf einen Teil sicher auch zutraf), ging Apple davon aus, dass es für viele einfach viel bequemer war, Musik auf ihre Computer zu laden, statt im Laden (oder bei Amazon) eine CD zu kaufen.
Sie können jetzt aufhören zu lesen, denn sie wissen eigentlich schon alles.
Im Nachhinein klingt das natürlich alles ganz plausibel und der Erfolg gibt Apple Recht. Wieso ist der Musikindustrie diese Lösung also nicht selbst eingefallen? Apple ist stark darin, Elemente aus dem Design Thinking zu nutzen:
- Die Fähigkeit los zu lassen – Umgang mit Unsicherheit lernen
- Nicht gleich anfangen zu codieren
- Gemeinsames Verständnis im Team entwickeln
- Storytelling – Kontext verstehen
- Empathie entwickeln
1. Die Fähigkeit los zu lassen
Sie hängen mit dem Rücken zur Wand an einem Felsvorsprung und jemand gibt Ihnen den Rat, los zu lassen. Relativ unvorstellbar, dass Sie das für eine gute Lösung halten. Wie lange können Sie festhalten? Wann müssen Sie loslassen? Die meisten lassen los, wenn sie keine andere Wahl mehr haben.
Gute Kletterer beschäftigen sich permanent mit der Frage, wann sie frühzeitig loslassen müssen, um auf den Füßen zu bleiben. Sie schauen nicht nur nach oben, sondern auch nach unten und wissen, wann es besser ist, einen Schritt zu machen, der scheinbar rückwärts geht, langfristig aber die besseren Perspektiven bietet.
Festhalten oder loslassen?
Wie entwickelt man diese Fähigkeit, mit Unsicherheit umzugehen?
2. Nicht gleich anfangen zu codieren, um die erste Idee umzusetzen
Ich habe lange in der Softwarebranche gearbeitet und immer wieder gesehen, dass bei der Entwicklung neuer Produkte alte Erfahrungen die breite Basis bildeten. Neue Technologien werden genutzt, um Dinge in der gleichen Form abzubilden, wie in der Vergangenheit. Das Resultat ist, dass zum Beispiel analoge Prozesse 1:1 abgebildet werden, ohne zu berücksichtigen, dass mit einer neuen Technologie andere Abläufe ermöglicht werden. Der eigentlich „Kern“ des Problems wird dann häufig erst in späteren Releases abgebildet (und bildet dann die eigentliche Innovation). Das kann bedeuten, dass um die alte Logik „herum entwickelt“ werden muss, was wesentlich höheren Aufwand bedeutet.
Es bietet sich an, vorher Prototypen verschiedener Reifegrade zu entwickeln und die Reaktion von potentiellen Kunden zu testen. Das beginnt mit einfach gescribbelten Papierprototypen, die dann sukzessive entweder weiterentwickelt oder auch wieder verworfen werden. So entsteht ein Weg, in dem die Risiken kalkulierbarer werden und Scheitern nicht mit zu hohen finanziellen Verlusten verbunden ist, sondern als unvermeidlicher Weg in der Zielfindung akzeptiert wird. Der Kern des Problems kann sukzessive eingekreist und bei der Lösungsfindung eingebaut werden.
Doch wie kommt man zum Verständnis, was der Kern eines Problems ist? (Im Apple-Beispiel oben ist der Kern des Problems die „Bequemlichkeit“.)
3. Gemeinsames Verständnis im Team entwickeln
Wir glauben oft, dass Innovation von einsamen Genies ausgeht. Steve Jobs wird hier gerne als Beispiel herangezogen. Doch gerade er war von vielen Wegbegleitern umgeben, die ihm Ideen lieferten oder sie für Apple zur Produktreife brachte (so hatte zum Beispiel der deutsche Designer Hartmut Esslinger die Idee für das iPhone und David Kelley war maßgeblich an der Entwicklung der ersten kommerziell erfolgreichen Computermaus beteiligt, die Apple an den Markt brachte).
Einzelne können zweifelsohne sehr gute Ideen haben. Um Ideen erfolgreich umzusetzen, braucht es jedoch Teams, in denen Leute mit unterschiedlichen Perspektiven auf eine Produktidee schauen und sich gemeinsam dafür einsetzen, sie erfolgreich zu machen.
Wie versetzt man Teams in die Lage, sich gemeinsam für eine Sache ins Zeug zu legen?
4. Storytelling – Kontext verstehen
Vor ein paar Jahren war ich mit Kollegen auf einer Berghütte zum Skifahren. Wir unterhielten uns viel über Musik und einige Kollegen hatten ihrer PCs dabei – wir spielten viele Stücke an. Ich war überrascht, welches Repertoire unterschiedlichster Musiker und Stilrichtungen dabei zu Tage kamen. Trotzdem fehlte das eine oder andere Stück. Die Kollegen wollten nicht ruhen, bis sie diese Stücke mühsam mit dem Handy aus dem Internet geladen hatten. Heute wäre das wohl kein Problem, da WLAN sogar häufig in entlegenen Gebieten in passabler Bandbreite zur Verfügung steht. Ich wäre damals nie auf die Idee gekommen, dass das irgendwann einmal möglich sein könnte – und habe die Umstände einfach als gegeben angesehen.
Aufmerksame Beobachter merken sich solche Geschichten und verknüpfen sie mit dem Wissen über technische Neuerungen oder wissenschaftliche Erkenntnisse, die noch keine breite Bekanntheit erlangt haben. Sie erzählen sie weiter, hören anderen aufmerksam zu und gehen mit offenen Augen durch die Welt. Dadurch schaffen sie in ihrem Kopf eine Ansammlung loser Enden, die irgendwann Sinn machen könnten, wenn sie sich miteinander verknüpfen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist innerhalb Teams wesentlich höher, wenn sie auf dieselbe Problematik sensibilisiert sind. Geschichten sind das ideale Medium, da sie in geschlossener Form Akteure, Rahmenbedingungen und Stimmungen beinhalten. Menschen lieben Geschichten und können sich diese weit besser merken als abstrakte Listen mit analytischen Informationen.
Wie entwickelt man ein Gespür für Geschichten, die illustrieren, woran Menschen sich reiben und daher Potential für Innovation bieten?
5. Empathie entwickeln
Empathie ist die Fähigkeit, sich vorstellen zu können, wie sich ein anderer Mensch fühlt. Das kann jeder.
Die Frage ist, ob und wann wir diese Fähigkeit einsetzen. Wir beschränken uns meist darauf, nur das zu bemerken, was jemand für uns mehr oder weniger sichtbar oder hörbar tut. Darauf wenden wir unser Interpretationsschema an und geben uns damit zufrieden. Designer hinterfragen ständig, warum jemand etwas in einer bestimmten Art und Weise tut und vergleichen es mit Beobachtungen anderer Personen in derselben Situation. Sie vergleichen aber auch, ob es Analogien gibt, die aus völlig anderer Perspektive gegebenenfalls Lösungen bieten. Daraus destillieren sie, welche Muster sich ableiten lassen und kombinieren ihr eigenes und das Wissen ihres Teams zu neuen Lösungen.
An dieser Stelle schließt sich der Kreis – letztendlich muss man jetzt wieder loslassen – niemand kann mit Bestimmtheit sagen, ob die neu kombinierte Lösung wirklich Erfolg haben wird. Allerdings auch nicht, ob die alte weiterhin eine Basis für Erfolg bietet. Innovation passiert nicht, wenn man sich einmal hinsetzt und konzentriert. Sie passiert unterwegs, wenn wir ständig evaluieren, wo wir als nächstes den Fuß hinsetzen wollen. Nach oben schauen, wo das Ziel ist und nach unten, wo sich alternative Wege bieten, die vorher nicht sichtbar waren. Nicht zuletzt auch dann, wenn wir offen dafür sind, neue Ziele anzustreben, die wir erst erkennen, wenn wir schon unterwegs sind.
Hinweise:
Inga Wiele wurde 2011 an der d.school des Hasso-Plattner-Instituts in Potsdam zum Design Thinking Coach ausgebildet. Sie verfügt über 4 Jahre aktive Projekt- und Implementierungserfahrung des Ansatzes als Produkt Managerin bei SAP und ist seit 2 Jahren als selbständige Unternehmerin in Zusammenarbeit mit Unternehmen verschiedener Größenordnungen und Branchen tätig. Sie bietet einen Design Thinking Kurs für “Besseres Kundenverständnis für erfolgreichere Produkte und Dienstleistungen” an: http://www.gezeitenraum.com/angebot/veranstaltungen/designthinkingkurs/
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