Das Gute an 08/15
08/15 ist ein Ausdruck für Mittelmaß, Durchschnitt, für etwas Gewöhnliches oder nichts Erwähnenswertes. Doch obwohl der Ausdruck gerne abwertend gebraucht und verstanden wird, muss etwas Durchschnittliches nichts Schlechtes sein. Im Gegenteil sogar: hinter 08/15 können sich viele Merkmale und Features verbergen, die wir täglich schätzen und benutzen, ohne uns darüber Gedanken zu machen: Das Einblenden einer Caller-ID auf einem Smartphone, ein intuitiv zu bedienender DVD-Player, USB-Sticks mit großer Speicherkapazität, die Verwendung von Reiseportalen im Internet. Warum das so ist, verrät uns ein emeritierter Professor der Tokyo University of Science.
Das Kano-Modell
Noriaki Kano arbeitete als Dozent, Pädagoge und Forscher, als Buchautor und Berater im Bereich des Qualitätsmanagements und entwickelte 1978 in Tokyo an der Universität ein Kundenzufriedenheitsmodell – heute bekannt als Kano-Modell.¹ Damit legte er den Grundstein für einen neuen Ansatz zum Verständnis und zur Modellierung der Kundenzufriedenheit. Er erkannte, dass die Verbesserung jeder Eigenschaft einer Dienstleistung oder Ware nicht automatisch zur Erhöhung der Kundenzufriedenheit führt. Durch manche Merkmale ließe sich eine höhere Kundenzufriedenheit und -bindung erzielen als durch andere.
Auf dem Weg zur Beschreibung des Zusammenhangs zwischen der Erfüllung von Kundenanforderungen und Kundenzufriedenheit definierte Kano 5 Merkmale:
- Die Basismerkmale gelten als selbstverständlich und werden Ihnen als Kunden erst bewusst, wenn sie nicht vorhanden sind. Kunden erwarten Basismerkmale einfach, setzen sie voraus. Ihnen und mir würde es schwer fallen, sie direkt zu artikulieren. Dass Sie ein Handy auf „stumm schalten“ können, empfinden wir alle als normal, als ein Muss-Kriterium. Fehlen Basismerkmale sind Kunden unzufrieden, sind sie vorhanden, entsteht jedoch keine zusätzliche Zufriedenheit.
- Leistungsmerkmale hingegen werden von Kunden explizit nachgefragt und haben direkten Einfluss auf die Zufriedenheit. Mit Leistungsmerkmalen verbinden sie Qualität und Produkte unterscheiden sich in der Qualität. Wie hoch ist der Benzinverbrauch des Neuwagens, wie schnell erfolgt die Lieferung der Ware bei einer Onlinebestellung? Werden Leistungsmerkmale nicht erfüllt, ensteht Unzufriedenheit bei Kunden. Werden Leistungserwartungen übertroffen, steigt entsprechend die Zufriedenheit. Leistungsmerkmale lassen sich im Gegensatz zu Basismerkmalen gut durch Marktbefragungen und Marktbeobachtungen ermitteln.
- Die Begeisterungsmerkmale sind die Könige unter den Merkmalen. Wie der Begriff schon verrät, können Produkte mit diesen Merkmalen Kunden begeistern. Begeisterungsmerkmale werden nicht erwartet und ein Fehlen entsprechender Merkmale schafft auch keine Unzufriedenheit. Ist aber ein „wunderbares“ Begeisterungsmerkmal vorhanden, kann bereits eine kleine Leistungssteigerung zu einem überproportionalen Nutzen führen. Als das erste Smartphone mit einer „natürlichen Wischfunktion“ auf dem Markt kam, war die Begeisterung groß – das Feature war gefühlt wichtiger als die tatsächliche Qualität der Sprachübertragung oder die Dauer der Batterielaufzeit. Durch diese Begeisterung konnte ein Computerhersteller in kurzer Zeit einen Markt geradezu erobern, auf dem sich schon viele Jahre andere Hersteller in kleinen Schritten bemühten, noch bessere Mobiltelefone zu entwickeln. Inzwischen hat ein Großteil der Gerätehersteller den Markt längst verlassen und andere Computer- und Elektronikhersteller versuchen Kunden mit beidseitig abgerundeten Displays zu begeistern.
- Unerhebliche Merkmale führen weder zur Zufriedenheit noch zur Unzufriedenheit, unabhängig ob sie vorhanden sind oder nicht. Sie als Individuum haben einfach keine Verwendung für gewisse Funktionen. Wenn Sie nie die Namen von Mitarbeitern mit ihren hinterlegten Eigenschaften von einer Datenbank in eine andere importieren müssen, interessieren Sie sich auch nicht für eine entsprechende Schnittstelle zwischen den Datenbanken. Sie besitzen keinen Anhänger, warum sollte Ihr Auto dann eine Anhängerkupplung besitzen?
- Es gibt aber auch Rückweisungsmerkmale. Existieren diese Merkmale führen sie zu Unzufriedenheit, sind sie hingegen nicht vorhanden, schaffen sie dennoch keine Zufriedenheit. Rosten Ihre Autofelgen im Winter schon bei etwas Schnee auf den Straßen? Fängt Ihr Kühlschrank bereits nach 10 Sekunden an zu piepen, nur weil Sie die Tür geöffnet haben?
Das Diagramm und seine Bestandteile
Wie sieht nun das Diagramm aus? Und was lässt sich aus dem Diagramm ablesen?
Produktmerkmale und Effekte auf die Zufriedenheit
In dem Diagramm sehen Sie zwei Achsen: Kundenzufriedenheit (mit den Ausprägungen „sehr zufrieden, begeistert“ sowie „unzufrieden, enttäuscht“) auf der vertikalen Achse und Erfüllung der Kundenanforderungen (mit „Erwartungen nicht erfüllt“ beziehungsweise „Erwartungen übertroffen“) auf der horizontalen Achse. Leistungsmerkmale werden als Gerade, Basismerkmale und Begeisterungsmerkmale als exponentielle Kurven dargestellt. Die Indifferenzzone kennzeichnet den Bereich, in dem die Anforderungen mehr oder weniger erfüllt werden. Die Zufriedensheitswerte verhalten sich gemäßigt, außerhalb der Zone sinken und steigen die Zufriedenheitswerte der Basis- und Begeisterungsmerkmale aber überproportional.
Auch wenn aus dem Modell keine konkreten Messpunkte abgelesen werden können, zeigen die Positionen der Gerade und der Kurven den Zusammenhang zwischen Erfüllung der Kundenanforderungen und der Kundenzufriedenheit sehr anschaulich.
Auf der Suche nach der Begeisterung
Eine Gesamtzufriedenheit eines Kunden mit einer Ware oder einer Lösung lässt sich aus dem Modell nicht herleiten. Es führt aber zu einigen einfachen Überlegungen:
- Eine Differenzierung gegenüber einem Wettbewerber über Basismerkmale kann nicht gelingen.
- Leistungsmerkmale sind für Kunden sehr wichtig und bieten sich für eine Differenzierung an.
- Begeisterungsmerkmale bieten die größte und nachhaltigste Chance für eine Differenzierung.
Wie finden Sie also Begeisterungsfaktoren? Vielleicht sind Sie ein sehr kreativer Kopf und haben schon eine bahnbrechende Idee in der Schublade? Oder Sie nutzen kreative Wege auf der Suche nach solchen Merkmalen wie die Design Thinking Methode? Oder Sie übertragen Begeisterungsfaktoren aus einem Umfeld in ein anderes? Sie schauen sich also an, was in einem Bereich funktioniert und überlegen, ob das auch in einem anderen funktionieren könnte. Wann wird es Head-up-Displays nicht nur für Autos, sondern auch in Motorradhelmen geben? Wann gelingt es Fluggesellschaften, Ihnen Reisen nur noch von dem Flughafen bei Ihnen in der Nähe anstatt von allen denkbaren Flughäfen anzubieten? Und könnte Ihr Briefkasten Sie nicht einfach darüber informieren, dass wichtige Post angekommen ist?
Von der Begeisterung zu 08/15
Begeisterungsmerkmale haben wie Leistungsmerkmale eine Tendenz zur Gewöhnung. Freuen Sie sich noch über Ihr Schiebedach im Auto, über das Einstellen individueller Klingeltöne bei Ihrem Handy oder die Möglichkeit, ohne Bargeld bezahlen zu können? Vielleicht ja, vielleicht freuen Sie sich noch, aber sind Sie davon noch genauso begeistert wie beim ersten Mal? In der Konsequenz bedeutet dies, dass heutige Basismerkmale ehemalige Leistungsmerkmale und vielleicht sogar ehemalige Begeisterungsmerkmale sind. Ein Basismerkmal ist etwas Gewöhnliches oder nichts Erwähnenswertes und laut Definition somit 08/15.
Für sich betrachtet gibt es viele 08/15 Merkmale, die nicht schlecht sind. Natürlich steuern Sie auch im August 2015 ein Auto mit einem Lenkrad und nehmen dies als normal hin. Ein Lenkrad war einmal eine begeisternde Erfindung. Vielleicht wundern Sie sich manchmal, dass Automobilhersteller pro Fahrzeug lange Listen mit sehr vielen Austattungsoptionen anbieten; bei genauer Betrachtung erkennen Sie bestimmt, dass viele Leistungsmerkmale nichts anderes als Basismerkmale sind. Sie werden lediglich als Leistungsmerkmale vermarktet.
Die Vorteile von 08/15
Natürlich gibt es kein Patentrezept, um das nächste Begeisterungsmerkmal für Ihr Produkt oder in Ihrem Markt zu finden. Und auch wenn Basismerkmale nicht zur Differenzierung von Wettbewerbern taugen, so bieten auch durchschnittliche und erwartungskonforme Merkmale einen tatsächlichen Nutzen. Stellen Sie sich vor, ein Hersteller eines DVD-Players macht sich Gedanken, wie er das Drehen der DVD beim Abspielvorgang sichtbar und damit attraktiver machen könnte. Er überlegt sich, die DVD nicht mehr an der Vorderseite in das Gerät einzulegen, sondern an der Oberseite. Ein durchsichtiger Deckel ist leicht entwickelt, das gab es schließlich schon früher bei portablen CD-Playern. Super Idee, hübscher, individueller als bei anderen Herstellern, dennoch genauso leicht zu bedienen. Der Hersteller freut sich. Und Sie als Kunde stellen fest, dass Sie den DVD-Player zwar weiterhin in das vorgesehene Fach im TV-Tisch schieben, leider aber keine DVD mehr einlegen können.
Wenn sich Basismerkmale nicht zur Differenzierung eignen, bedeutet dies gleichzeitig, dass Kunden diese Basismerkmale kennen, sie bedienen und leicht nutzen können. Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal einen DVD-Player kaufen oder in einem Mietwagen nach dem Öffnungsmechanismus des Tankdeckels suchen. Er könnte sich direkt hinter Ihnen am Boden in der B-Säule befinden. Es lebe 08/15.
Hinweise
[1] www.qualitygurus.com/gurus/list-of-gurus/noriaki-kano/
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