Der Golden Circle im Requirements Engineering
Hören Sie gerne Musik? Na, dann haben Sie vermutlich auch einen Schallplattenspieler zu Hause, oder? Nein, Sie hören Ihre Lieblingsband gerne in der U-Bahn und besitzen daher einen MP3 Player? Ach, Sie haben einen Streaming-Dienst abonniert und nutzen dafür Ihr Handy? Natürlich verwenden Musikfreunde die Geräte, die sich für ihre Situation und Bedürfnisse am besten eignen. Diese unterschiedlichen Szenarien zu erkennen und passende Lösungen anzubieten, ist eine wichtige Aufgabe im Prozess des Requirements Engineerings der Hersteller entsprechender Geräte. Doch wie können die Hersteller diese Szenarien überhaupt erfassen, welche grundsätzliche Frage hilft beim Verstehen und wie kommt hier der Golden Circle ins Spiel?
Der Golden Circle
Der Golden Circle geht auf Simon Sinek¹ zurück. Mit dem Golden Circle bezeichnet Sinek ein Zusammenspiel aus „What“, „How“ und „Why“. Praktisch alle Firmen kennen ihr „What“ sehr genau. „Was“ eine Firma tut, ob sie eine Software vermarktet, ein Automobil designt oder eben einen Player für einen Streaming-Dienst entwickelt, weiß natürlich jede Firma und jeder Mitarbeiter einer Firma. Auch das „How“ ist meist noch bekannt. „Wie“ ein Unternehmen arbeitet, mit welchen Abläufen und Partnern, mit welchen Tools und welchen Arbeitsschritten – solche Aspekte sind entweder klar umrissen oder an ihnen wird gearbeitet. Sie stehen im Fokus von Business Analysten, Prozessabteilungen, Stabstellen und Marketingbereichen. Und sie führen häufig zu Strategien der Differenzierung zu anderen Herstellern und Lieferanten, gerne zu Alleinstellungsmerkmalen und einer Value Proposition. „Why“ aber ist die Königsdisziplin. „Warum“ tut eine Firma das, was sie tut? Was treibt sie an? Und „warum“ sollte sich ein Kunde, ein Anwender, ein Mensch, der sich für Musik interessiert, für eine Lösung eines Herstellers begeistern?
What-How-Why – Der Golden Circle von Simon Sinek
Die Richtung im Golden Circle
Beschäftigen sich Unternehmen mit dem Golden Circle, dann häufig von außen nach innen. Sie kennen ihr „What“ und beschäftigen sich umfassend mit dem „How“. Dann versuchen Sie aus dem „What“ und dem „How“ abzuleiten, warum Sie eigentlich Waschmaschinen bauen, Raketen entwickeln oder Bewegungssensoren für Beleuchtungsanlagen entwerfen.
Die Richtung im Golden Circle – häufig von außen nach innen
„Why?“ ist die spannende Frage. Wer sich diese Frage stellt, wir schnell feststellen, dass sie nicht leicht zu beantworten ist. Und „Why“ ist das so? Weil die Frage nach dem „Warum“ die größte aller Fragen ist. Für Menschen und für Unternehmen, sprich dem Zusammenschluss von Menschen in einer gemeinsamen Organisation. Jeder Mitarbeiter entdeckt für sich seinen persönlichen Sinn, seinen „Eigensinn“ sozusagen. Dass sich daraus ein „Gemeinschaftssinn“ für die Organisation ergibt, ist eher unwahrscheinlich.
Für Unternehmen macht es viel mehr Sinn, das “Why” nicht im Nachhinein zu beantworten, nicht von außen nach innen, sondern von Beginn an. Fragen Sie Ihren Firmengründer nach dessen Antrieb und Motivation und Sie werden erstaunt sein. Was Sie erhalten, ist nichts anderes als die Richtungsumkehr im Golden Circle. “Why” als Start. Das “How” wird zur Umsetzung und das “What” zum Resultat.
Die Richtungsumkehr im Golden Circle – von innen nach außen
Anwender verändern ihre Gewohnheiten
Wer ist Weltmarktführer im Bereich der Grammophone? Ach, stimmt, es gibt heutzutage keinen wirklichen Markt für Grammophone. Schade für Emil Berliner², der das Grammophone-Schallpattensystem 1887 zum Patent angemeldet hatte und seinen Partner, aber die Welt der Schallplatte drehte sich weiter. Haben Sie vielleicht auch einen Schallplattenspieler zu Hause? Ja, es gibt einige unter uns. Der Schallplattenspieler hat eine kleine Renaissance erfahren. Das Knistern, das haptische Gefühl beim Aufsetzen der Schallplattenspielernadel, der Ausflug in die Vergangenheit – der Besitz eines Schallplattenspielers kann viel Freude bereiten.
Ziemlich sicher aber besitzen auch Sie einen MP3 Player. Sehr gerne treten diese MP3 Player inzwischen in der Öffentlichkeit paarweise mit überdimensionierten, bunten Kopfhörern auf – die Geräte werden immer kleiner, die Kopfhörer immer größer. Einen Walkman haben aber wirklich nur noch die allerwenigsten und wenn, dann eher als Erinnerung, denn der Umgang mit Kassetten, die Schwierigkeiten beim Vor und Zurückspulen, die Gefahr eines Bandsalats – das akzeptiert heute praktisch niemand mehr.
Der CD-Player in den eigenen Wänden dürfte auch noch vorhanden sein, aber wer hatte seinerzeit schon einen Discman? Oder gar einen Mini-Disc-Player? Heute nutzen sehr fortschrittliche Musikfreunde Streamingdienste mit entsprechenden Flatrates. Sie greifen über ihre Handys auf riesige Musikbibliotheken zu und rüsten bei Bedarf ihre Musikanlagen in den eigenen vier Wänden um. Vom Grammophone zum Streaming-Dienst – die Gewohnheiten des Musikhörens haben sich offensichtlich stark verändert in den letzten gut 100 Jahren.
Was bewirkt der Golden Circle im Requirements Engineering?
Wenn Sie sich fragen, wie es den verschiedenen Musikgeräteherstellern über die Zeit ergangen ist, dann werden Sie verstellen, dass sehr viele “verschwunden” sind. Die Gewohnheiten und Märkte haben sich so dramatisch geändert, dass sie keine Überlebenschancen hatten. Oder? Jetzt kommt die Richtungsumkehr beim Golden Circle zum Tragen. Eigentlich wollen auch heute Musikinteressierte lediglich Musik hören. Mobiler zugegeben, flexibler auch, aber an sich wollen Sie einfach Musik hören. Und warum tun sich Hersteller damit so schwer? Weil Sie nur einen Blick auf ihre eigenen Komponenten werfen. Sie schauen nach dem „What“ und bestenfalls nach dem „How“. Wie kann ich einen Walkman noch leichter machen? Wie transportiere ich eine CD ohne Kratzer sicher von A nach B? Aber: das „Why“ macht den Unterschied!
Viele Hersteller haben sich relativ wenig mit den Anwendern und den veränderten Szenarien der Anwendung beschäftigt. In welchen Situationen wollen Menschen Musik hören? Wie wollen sie es tun? Wie erhalten sie Zugriff auf die Musik, die Ihnen gefällt. Müssen Anwender die Musik tatsächlich kaufen und besitzen? Reicht es nicht aus, die Musik zum Abspielen verfügbar zu machen? Und zwar praktisch jegliche Musik, die heutzutage vermarktet wird? Zu einem attraktiven Preis?
Fazit
Sich mit dem Golden Circle auch im Requirements Engineering zu beschäftigen macht viel Sinn. “Why” machen wir das, was wir tun? Auch wenn im Tagesgeschäft wenig Zeit für solche Überlegungen vorhanden ist, lohnt sich die Beschäftigung damit. Sie werden sich nicht mehr nur fragen, wie Sie schneller, besser, effizienter im nächsten Projekt arbeiten, sondern erkennen, warum sie überhaupt Projekte machen und Produkte entwickeln. Fragen Sie sich nicht, was Sie gegen die Gefahr des Verkratzens physikalischer Datenträger tun können, sondern eher, warum Sie solche Datenträger überhaupt benötigen. Stellen Sie Ihre Anwender, Kunden, Partner wirklich in den Mittelpunkt. Und entwickeln Sie so Dinge von denen nur die wenigsten vor 10 Jahren geträumt haben, beispielsweise einen Kopfhörer, mit dem Sie einen Streaming-Dienst ganz ohne Handy nutzen können.
Können wir zukünftig gestreamte Musik mobil ganz ohne Handyempfang hören?
Hinweise
[1] Simon Sinek, TED Talk über den Golden Circle
[2] Emil Berliner und die Geschichte des Grammophones
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