Die besten Beobachtungstechniken

by | 15.05.2017 | Requirements Engineering

Wenn Stakeholder mit Anforderungsworkshops nicht vertraut sind oder keine Zeit dafür aufbringen können bzw. wollen, können Sie sich in Hinsicht auf diese Stakeholder-Gruppe für Entwicklungstechniken im Requirements Engineering entscheiden, die in geringerem Maße Kommunikations­fähig­keiten und Einsatz verlangen. Dazu gehören Beobachtungstechniken wie Feldbeobachtung, Apprenticing und Contextual Inquiry, Befragungstechniken wie Interview, Fragebogen und Selbstaufschreibung sowie unterstützende Techniken wie Persona-Szenarios und Use Case Szenarios. Heute wollen wir uns die Feldbeobachtung, das Apprenticing und das Contextual Inquiry etwas genauer anschauen.

Die Feldbeobachtung

Bei der Feldbeobachtung schauen Sie den Stakeholdern an ihren Arbeitsplätzen über die Schultern und gelangen so zu Erkenntnissen, wie das geplante System funktionieren sollte. Von dieser Technik gibt es zwei Varianten:

  • Dauerbeobachtung,
  • Multimomentaufnahmen.

Dauerbeobachtungen zu führen, bedeutet, über einen längeren Zeitraum Tätigkeiten, Verwendung von Arbeitsunterlagen oder -material, das räumliche Umfeld und die Arbeitsbedingungen mitzuerleben und wesentliche Eindrücke schriftlich festzuhalten. Die Multimomentaufnahme ist ein Stichprobenverfahren, bei dem aus einer Vielzahl von Augenblicksbeobachtungen statistisch gesicherte Mengen- und Zeitangaben abgeleitet werden.

Durch Feldbeobachtungen können Sie vielfältige Erkenntnisse gewinnen, zum Beispiel über:

  • Zweckmäßigkeit von Arbeitsplätzen,
  • außergewöhnliche Belastungen am Arbeitsplatz,
  • Auslastungsgrad von Arbeitsplätzen,
  • Zeitbedarf von Vorgängen,
  • Engpasssituationen,
  • Kommunikationswege (und Schleichwege),
  • Mengengerüste.

Tipps zur Feldbeobachtung:

  1. Legen Sie vorab fest, was Sie beobachten wollen, also Personen, Arbeitsplätze und Sachmittel, die – mit Blick auf das zu entwickelnde System – von Interesse sein können.
  2. Wenn Sie eine Multimomentaufnahme durchführen wollen und das Ergebnis statistische Zuverlässigkeit besitzen soll, müssen Sie die erforderliche Zahl an Beobachtungen errechnen.
  3. Erstellen Sie einen Beobachtungszeitplan und stimmen Sie ihn mit den Betroffenen ab.
  4. Benachrichtigen Sie die betroffenen Personen. Da es gegen die Beobachtungstechniken oft Aversionen gibt, sollten die Betroffenen sehr genau über Zweck und Absicht der Beobachtung informiert werden und rechtzeitig die Termine für die Beobachtung erfahren. Denn unangemeldetes Erscheinen verstärkt Abwehrverhalten. Achtung: So verlockend es sein mag, das Smartphone zur Unterstützung einzusetzen (Tonmitschnitte, Videos, Fotos): Nichts geht ohne die Zustimmung der Betroffenen und der Unternehmensleitung und fällt möglicherwiese unter die Mitbestimmungspflicht.

Unsere Empfehlung: Vermeiden Sie die Dauerbeobachtung. Sie ist nur in seltenen Fällen die geeignete Technik; denn zu dem hohen zeitlichen Aufwand, den sie erfordert, und der psychologischen Belastung der Betroffenen, kommt die nicht zu unterschätzende Gefahr der Verfälschung: Menschen verändern ihr Verhalten (bewusst oder unbewusst), wenn Sie sich beobachtet wissen. Multimomentaufnahmen bergen diese Gefahr natürlich auch, erfordern jedoch weniger Aufwand, liefern gute Ergebnisse im Rahmen der Wahrscheinlichkeitsrechnung und sind mit geringeren Störungen der Beobachteten verbunden.

Wie funktioniert Apprenticing?

Bei dieser Technik erlernt der Requirements Engineer die Tätigkeit des Stakeholders vom Stakeholder und führt sie selbstständig durch. Dahinter steht die Idee, dass das Selbsttun wirksamer zu Erkenntnissen führt, als das Sprechen über die Tätigkeit des Stakeholders. Der Requirements Engineer erkennt bei der Arbeit Details, die in einem Interview möglicherweise gar nicht zur Sprache gekommen wären. Ein fachfremder “Lehrling” blickt aus einer anderen Perspektive auf die Arbeit als ein Stakeholder, der damit vielleicht schon seit vielen Jahren vertraut ist. Als Requirements Engineer werden Sie viele Details wahrnehmen, die der Stakeholder als selbstverständlich und deshalb nicht für erwähnenswert hält. Wenn Sie an einen eifrigen “Lehrmeister” geraten, liegt die größte Gefahr dieser Technik allerdings gerade darin, in zu viele Details und Sonderfälle abzugleiten.

Tipps zum Vorgehen Apprenticing:

  1. Legen Sie fest, bei welchem Stakeholder Sie in die „Lehre“ gehen wollen. Nicht jeder ist ein guter Lehrer. Hier benötigen Sie die Unterstützung, zum Beispiel des zuständigen Managements, um geeignete Personen zu finden.
  2. Führen Sie ein Vorgespräch mit den Betroffenen. Erläutern Sie die Absichten und das Vorgehen.
  3. Erarbeiten Sie mit ihren Lehrern jeweils einen Lehrplan: Was sollten Sie in welchem zeitlichen Rahmen erlernen?
  4. Beginnen Sie Ihre Lehre. Sie sollte in vier Phasen ablaufen:
  • Lernen durch Zusehen: Der Lehrer demonstriert die Arbeitsvor­gänge an echten Fällen.
  • Unterstützte Eigentätigkeit: Sie probieren es selbst, wissen aber den Lehrer an Ihrer Seite, der jederzeit helfend eingreifen kann.
  • Selbstständige Arbeit mit nachlassender Unterstützung (Fading): Je kompetenter Sie werden, umso weniger greift der Lehrer ein.
  • Coaching: Der Lehrer beobachtet nur noch und betreut und korrigiert Sie nur noch im Notfall.

Diese Technik geht zurück auf Karen Holtzblatt und Hugh R. Beyer, zwei Experten aus dem Bereich des User-Centered Design [1]. Diesen beiden Autoren verdanken wir auch eine weitere Beobachtungstechnik:

Was ist eine Contextual Inquiry?

Hierbei handelt es sich um ein Mittelding zwischen Interview und Beobachtung. Manche Autoren sprechen von einer semi-strukturierten Befragung, denn zuerst werden die Stakeholder anhand einer Liste von Standardfragen interviewt. Dies geschieht aber nicht auf “neutralem Boden” in einem Besprechungsraum, sondern direkt im Arbeitsumfeld der Stakeholder. Dann werden die Stakeholder bei ihrer Tätigkeit beobachtet. Während der Beobachtung wird – wenn nötig – nachgefragt: “Was tun Sie jetzt genau?”, “Warum tun Sie das?”, “Was war der Auslöser dafür?”, “Woher bekommen Sie jetzt diese Information?”, etc. Ziel ist es, Änderungsbedarf und Verbesserungspotenzial zu erkennen, um daraus Anforderungen abzuleiten.

Die Technik Contextual Inquiry basiert auf vier Prinzipien:

  • Fokus. Machen Sie sich den Zweck der Befragung klar: Was wollen Sie erfahren, wissen, erreichen? Planen Sie Ihre Fragen und Ihr Vorgehen orientiert an diesem Zweck. Das ist das beste Mittel, um sich nicht in Details zu verlieren. Denn genau das ist die größte Gefahr bei dieser Technik.
  • Kontext. Gehen Sie an die Arbeitsplätze der zu Befragenden, erleben Sie das Umfeld und beobachten Sie die Arbeitsabläufe. Halten Sie fest, wie die Zusammenarbeit mit anderen abläuft, welche Probleme oder Störungen am Arbeitsplatz auftreten und wie damit umgegangen wird.
  • Partnerschaft. Sprechen Sie mit den Stakeholdern über ihre Arbeit in einer vertrauensvollen Weise. Ermutigen Sie sie, unausgesprochene Aspekte der Arbeit zu benennen. Lassen Sie sich Arbeitsschritte zeigen und – besser noch – probieren Sie es unter Anleitung des Stakeholders selbst aus. So kommen Sie aus eigenem Erleben zu Antworten auf die Frage: Warum so und nicht anders?
  • Interpretation. Ziehen Sie sich danach nicht zurück, um sich Ihren „Teil“ zu denken. Sondern entwickeln Sie mit den Stakeholdern ein gemeinsames Verständnis der Aspekte der Arbeit, die Sie gemeinsam als schwierig, kompliziert oder verbesserungswürdig erkannt haben.

Tipps zum Vorgehen einer Contextual Inquiry:

  1. Legen Sie fest, welchen Stakeholder Sie bei seiner Arbeit begleiten wollen.
  2. Führen Sie mit jeder Person, die Sie am Arbeitsplatz begleiten wollen, ein Vorgespräch. Niemand wird gern beobachtet. Deshalb stellen Sie sich vor und erläutern Sie Ihr Anliegen. Erklären Sie das Vorgehen, das Ziel und den Fokus der Contextual Inquiry. Legen Sie gemeinsam mit dem Stakeholder fest, welche speziellen Arbeitsvorgänge der Stakeholder während der Contextual Inquiry durchführen wird.
  3. Falls Sie Aufzeichnungsmedien nutzen dürfen, sichern Sie den Stakeholdern unbedingt absolute Vertraulichkeit zu.
  4. Machen Sie während der Beobachtung- und Interview-Phase Notizen über alles, was am Arbeitsplatz des Stakeholders geschieht – auch das, was nicht unbedingt zum Arbeitsablauf gehört.
  5. Fassen Sie zusammen, was Sie gesehen und erkannt haben, und diskutieren Sie (im Sinne des Prinzips der Interpretation) das Erlebte mit dem Stakeholder.

Weil die Stakeholder in ihrer vertrauten Arbeitsumgebung befragt werden, ist die Kontaktschwelle niedrig. Als Requirements Engineer erleben Sie nicht nur das technische und räumliche, sondern auch das soziale Umfeld am Arbeitsplatz. Die gewonnenen Eindrücke sind realer, die gesammelten Informationen sind präziser und leichter zu bewerten als die, die in der „Laborsituation“ eines Interviews ermittelt werden. Mit dieser Technik können Sie sehr detaillierte Informationen gewinnen. Sie setzt allerdings ein nicht unerhebliches Maß an Empathie auf Ihrer Seite voraus.

Fazit

Bei der Ermittlung von Anforderungen bieten Beobachtungstechniken eine Reihe von Vorteilen. Einer der größten Vorteile ist die Erfassung des tatsächlichen Verhaltens der Stakeholder. Es ist ungeschönt und nicht sprachlich aufgewertet. Durch die soziale Interaktionen zwischen Stakeholdern lassen sich häufig zusätzliche Erkenntnisse gewinnen. Und die geforderte Mitarbeit von den Probanten ist im Gegensatz zu anderen Formen der Anforderungsermittlung relativ gering. Demgegenüber steht der hohe Aufwand für Vorbereitung, Durchführung und Auswertung der Beobachtungen. Der größte Nachteil dürfte die Fehlbarkeit des Beobachters sein. Schnell werden Eindrücke unterschiedlich bewertet, vorgefertigte Meinung bestätigt oder Merkmale systematisch zu gut oder zu schlecht beurteilt. Und vielleicht ändert auch der unter Beobachtung stehende Stakeholder sein Verhalten und sorgt so für verfälschte Ergebnisse. Meine persönliche Einschätzung lautet daher: Beobachtungen sind ein gutes Instrument, insbesondere wenn sich die Durchführung von Anforderungsworkshops nur schwer realisieren lässt. Die Interpretation der Ergebnisse kann aber schwierig sein.

Quelle:
[1] Weitere Informationen zum Thema Apprenticing finden Sie bei Beyer, H. R., & Holtzblatt, K. (May Vol. 38, No.5, 1995). Apprenticing with the Customer. Communications of the ACM.